Die Hölle in uns

Die Verweigerung des »Immer weiter«: Martin Grubinger verabschiedet sich von Berlin mit einem sensationellen Konzert

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 7 Min.
Erbringt mit seinem Spiel permanent geistige und körperliche Höchstleistungen: Martin Grubinger.
Erbringt mit seinem Spiel permanent geistige und körperliche Höchstleistungen: Martin Grubinger.

Martin Grubinger ist einer der herausragenden Solisten in der Musikszene unserer Zeit. Als Schlagzeugvirtuose ist er eine Art Urmusiker, für den weder künstlerische noch spielerische Grenzen zu existieren scheinen und der sich mit unwiderstehlichem Elan und bei gleichzeitig höchster künstlerischer Integrität aktueller Werke annimmt. Und jetzt, wenige Monate vor seinem 40. Geburtstag, nimmt Martin Grubinger Abschied von den Konzertbühnen der Welt – sein Berliner Abschiedskonzert am Wochenende war an zwei bemerkenswerten Abenden in der Philharmonie zu erleben.

Abschied? Mit noch nicht einmal 40 Jahren? Auf dem Höhepunkt seiner Karriere? Wie das? Möglicherweise gibt gerade das phänomenale Konzert, das Grubinger letztes Wochenende als Gast des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin (DSO) unter dem Dirigenten Andris Poga spielte, eine schlüssige Antwort auf die Entscheidung. Doch davon später mehr.

Gegeben wurde das Grubinger gewidmete Konzert für Schlagzeug und Orchester des isländischen Komponisten und Dirigenten Daniel Bjarnason (Jahrgang 1979). Im November hatte es Grubinger in Helsinki uraufgeführt. Der nachträglich und auf seine Anregung Grubingers gewählte Titel des Werks lautete »Inferno«. Bjarnason erzählt, dass er den Schlagzeuger nach der Uraufführung gefragt habe, wie der das Stück denn nennen würde. Seine spontane Antwort: »Hölle«. Mag sein, dass damit, wie der Komponist vermutet, auch ein wenig das Gefühl des Solisten beim Erlernen des etwa 30-minütigen, immens anspruchsvoll zu spielenden Konzerts gemeint ist, vor allem aber dürfte die Assoziation »Dante« eine Rolle spielen. In der Tat hatte Bjarnason bei der Uraufführung »das starke Bild eines Menschen vor Augen, der allein in der Welt steht und den Eindruck hat, er sei in der Hölle. Das Orchester um ihn herum spielt eine Musik von zerbrechlicher Schönheit. Der Solist versucht, ein Teil davon zu werden, aber er schafft es nicht«.

Die Hölle in uns. Der moderne Mensch also, ein Sisyphos, den wir uns seit Camus als glücklichen Menschen vorstellen dürfen – in diesem Fall: weil er nach Schönheit schürft? Weil er in Musik aufgehen kann? Weil er Teil eines Rituals sein darf? Im ersten Satz, »The Bells« (Die Glocken), spielt Grubinger zunächst vor allem auf der Marimba, manchmal auch auf den seitlichen Klangbalken des Txalaparta, eines baskischen Instruments. Virtuose Girlanden winden sich auf und ab und bleiben immer wieder in den Höhen der Marimba stehen, erste Melodiefetzen schälen sich heraus, von Sekunden in den Streichern und später von Quarten in den Holzbläsern ergänzt und beantwortet. Eine geheimnisvolle, suchende Musik. Immer wieder werden auch die Taikos, die japanischen Trommeln, herangezogen, die eine rituelle Wirkung haben.

Plötzlich dann Glockenklänge, hell und reinigend, während Marimba und Txalaparta weiter virtuos betätigt werden. Die Musik entwickelt einen unwiderstehlichen Sog, das Orchester ergänzt eher mit schillernden und oszillierenden Klangfarben, als dass es eine thematisch bedeutende Funktion hat. Eine Art zeitgenössischer Impressionismus vielleicht, alle Virtuosität steht ganz im Dienst der Musik.

Im zweiten Satz, »A Passage«, stehen drei Wiener Pauken im Mittelpunkt. Zwei Orchesterschlagwerker betätigen die äußeren beiden, geheimnisvolle leise Paukenwirbel, dann gesellt sich Grubinger hinzu, und die drei Paukisten loten die Möglichkeiten ihrer Instrumente aus. Dabei verwenden sie, vor allem aber der Solist, immer wieder den Stimmhebel, die Töne werden also unüblich verändert. Auch hier ist wieder eine magische Ritualmusik zu hören, die Schönheit der Klänge der Instrumente. Diese »Passage« ist mehr als nur ein simpler Durchgang oder eine banale Seefahrt von A nach B. Vielmehr entsteht vor den Augen der Zuhörer*innen das Bild von Styx, dem Fluss zwischen der Welt der Lebenden und der Toten. Das flüsternde Getrommel der Pauken vermag das Raunen des Fährmanns Charon kaum zu übertönen. Ein Übergang von einer Welt in die andere, auch Dantes »Inferno« verwendet ja das Bild des Styx – und in diesem Schlagzeugkonzert könnte auch der Übergang von den traditionellen Wiener Pauken, die in so vielen Orchestermusiken eine hervorragende Rolle spielen, zu modernen und zum Teil auch außereuropäischen Schlagzeuginstrumenten gemeint sein.

Wir wissen nicht genau, wohin uns Charon und Grubinger geleitet haben, sind wir noch im Reich der Lebenden oder schon in dem der Toten? »Dunkle Gestade« nennt Bjarnason jedenfalls den dritten Satz, und wir erleben eine Fortsetzung der rhythmischen Obsessionen des ersten Satzes, diesmal im Zentrum: die auf Querträgern liegenden Klangbalken der baskischen Txalaparta, die jetzt von Grubinger zum Teil »original« geschlagen werden, also mit senkrecht gehaltenen Holzstäben, teilweise jedoch auch wie bei einem überdimensionierten Xylophon.

Die Txalaparta wurde im Baskenland zu Festen und Feiern, aber auch statt Kirchenglocken oder zur Nachrichtenübermittlung eingesetzt. Ihre Sounds sind eher rau und derb und haben weniger Nachhall, das Instrument ist also ideal für die furios eskalierenden Steigerungen, die überraschend zu einem Blechbläser-Choral führen. Eine Symbiose aller wilden und introspektiven Klänge, die wir in der halben Stunde erlebt haben? Zurück zur beliebten Finallösung Wiener Sinfonik, von Beethoven über Bruckner bis Mahler? Iwo. Dafür waren die dunklen Gestade, zu denen uns Grubinger und Bjarnason geführt haben, zu faszinierend: Es ist die Hölle mit ihren wilden Sounds und Rhythmen, mit all ihrem Krach und ihrer Ekstase, die uns in den Bann schlägt und die wir nicht mehr missen wollen!

Grenzenloser Jubel, Standing Ovations. Und eine Zugabe, von der Martin Grubinger schelmisch meint, sie sei, zugegeben, mehr Sport als Musik: Eine Paradiddle-Übung, also eine Art Schlagzeug-Etüde, mit der die Musiker Doppelschläge mit einer speziellen Doppelschlagbewegung üben, ausgeführt auf einer Marching Drum. Eine Zirkusnummer, gewiss, aber wie Grubinger die Schläge von leisestem Pianissimo bis hin zu brachialem Fortissimo steigert und wieder reduziert, zwischendrin souverän Polyrhythmen einbaut und Zeit für ein paar artistische Einwürfe findet, beweist nicht nur atemberaubende Virtuosität, sondern eben auch Gespür für Handwerk und Artistik. Sensationell.

In der Pause des Konzerts fragt man sich, weswegen man vor Martin Grubinger auf die Knie fallen soll: Wegen seiner musikalischen Ernsthaftigkeit, die seine stupende Virtuosität stets ausschließlich in den Dienst des Werks und der Aufführung stellt? Oder doch wegen der Haltung, mit der er im Sommer, kurz nach seinem 40. Geburtstag, Abschied von den Bühnen dieser Welt nehmen wird, wie er es schon vor Jahren beschlossen und verkündet hat?

Denn was er spielt und wie er es spielt, verlangt permanent geistige und körperliche Höchstleistungen. Und Martin Grubinger »ist kein Mann der künstlerischen Kompromisse. Er will alles auf Höchstniveau« (Bjarnason). Auf Dauer ist dieses Weltniveau als Schlagzeuger kaum durchzuhalten. Nach über 30 Schlagzeugkonzerten, die er inspiriert und uraufgeführt hat, nach einer gigantischen Zahl spektakulärer Konzerte wird Martin Grubinger nun sein Können und seine Begeisterung und sicher auch seine unkorrumpierbare Haltung an die Studierenden am Salzburger Mozarteum weitergeben. Er hat den Weg bereitet, jetzt müssen andere ihn weitergehen. Und so gibt uns Martin Grubinger zuletzt auch noch eine Lektion in Sachen Abschied und rechtzeitiger Rücktritt, in Sachen Aufhören, Loslassen und Verweigerung des »Immer weiter«.

Nach einem derartig spektakulären Konzertteil ist es denkbar schwierig, auch nur auf annähernd ähnlichem Niveau weiterzuspielen. Und doch gelingt das dem DSO und dem fabelhaften Dirigenten Andris Poga, der das Orchester schon bei all den schwierigen Einsätzen des Schlagzeugkonzerts beeindruckend zusammengehalten hat. Modest Mussorgskys »Johannisnacht auf dem Kahlen Berge«, erfreulicherweise in der Originalfassung des Komponisten aufgeführt und nicht in der geglätteten von Rimsky-Korsakow, glänzt mit Tiefsinn, Spuk und mancherlei »sündhaften Narreteien« (Mussorgsky): Eine Nacht der »Hexen« wie man auch im 19. Jahrhundert noch die Frauen bezeichnete, die einmal im Jahr ihre »Verkleidung ablegen, mit der sie sich in der Durchschnittsgesellschaft bewegen« (wie Habakuk Traber im vorbildlichen Programmheft schreibt). Orgien mit Sex, Drugs und Mussorgsky. Und schließlich eine von Poga aus der Ballettmusik »Romeo und Julia« von Sergei Prokofjew zusammengestellte Suite, in der das Orchester in allen Facetten schillern kann. Das ist effektvolle – und mitunter auch effektheischende – Musik, die allerdings an die Tiefe und Intensität der Werke von Bjarnason und Mussorgsky nicht ganz heranreicht.

Das Konzert gibt es zum Naschhören bei: dso-player.de, das lesenswerte Programmheft kann unter https://kurzelinks.de/bznf kostenlos heruntergeladen werden.

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