- Kultur
- 25 Jahre "Moon Safari"
Erinnerungen an die Zukunft
Vor 25 Jahren erschufen Air mit »Moon Safari« warme, kalte Musik
Es war die Zeit, als größenwahnsinnig das neue Normal war. Damals, in den späten 90ern, wollten alle in die Werbung. Sogar die jungen Frauen mit den Perlohrringen und den weißen Blusen (die später dann doch »was Vernünftiges« wie Jura studierten) bekamen leuchtende Augen, wenn das Wort »Agentur« fiel. Und die Männer mit den als besonders empfundenen Jacken sowieso.
So eine Agentur war ein Sehnsuchtsort. Es gab dort diese bunten Kisten, die man besser nicht Computer nannte. Denn die farbigen Macs der gerade wiederauferstandenen Firma Apple trennten den Kosmos der Kreativität von der grauen Bürowelt der Tabellen- und Textverarbeitungsprogramme. Natürlich dienten auch die Apple-Rechner der Arbeit, aber es fühlte sich nicht so an, wenn man Designs für die schöne neue Werbewelt (die mit Internet) erschuf und dabei Musik hörte.
Die Musik war wichtig. Sie verstärkte die Illusion, man verbrächte die Tage (und manchmal auch die Nächte) ja nur in der Agentur, um sich zu verwirklichen. Dass mancher Art Director in jenen Goldgräberzeiten tatsächlich wie ein Direktor bezahlt wurde (zumindest wie ein Filialdirektor), tröstete darüber hinweg, wenn die Illusion bröckelte. Entscheidend war, dass sich ein solches Leben cool anfühlte. Wenn es sein musste, mithilfe der kalten Droge Kokain. Sogar der Musik kam die Aufgabe zu, ihre Zuhörer abzukühlen. »Chill-out«, das war nicht nur die elektronische Spielart von Easy Listening in der »Afterhour« der Partys, das war auch ein Lebensgefühl.
Hier betrat eine Generation die Bühne, die das »Ende der Geschichte« (das der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama 1989 etwas voreilig ausgerufen hatte) auf ihr kreatives Schaffen anwandte. Die auf historische Kontinuität pfiff und Videotheken und Musikarchive als Selbstbedienungsladen nutzte. Als Samplingmaterial für Filme und Alben, die das Etikett »neu« (im Sinne von aufregend) trugen und sich zugleich seltsam alt (quasi recycelt) anfühlten. Wie der Film »Pulp Fiction« von Quentin Tarantino oder das Album »Odelay« von Beck.
Doch niemand vermengte und verwischte die Zeitebenen derart konsequent wie das französische Soundtüftler-Duo Air. Nicolas Godin und Jean-Benoit Dunckel webten moderne Klangteppiche zum Chillen, aber die Technik, derer sie sich dabei bedienten, stammte aus den 70er Jahren – alte analoge Synthesizer wie der Korg MS-20 und diverse Moog-Geräte. Dadurch klingt ihr Debütalbum »Moon Safari«, das Anfang 1998 erschien, futuristisch und nostalgisch zugleich. Es ist Musik, die vorführt, wie man sich Jahrzehnte zuvor die Zukunft vorstellte und die zugleich das Wissen in sich trägt, dass es dann doch ganz anders gekommen ist.
Dieser Zeiten-Zickzack bringt seltsam unwirkliche Sounds hervor. Ambient Pop für private Paralleluniversen. Oder wie es Nicolas Godin beschreibt: »Unsere Musik soll klingen wie ein Beruhigungsprogramm für einen Disco-Fan, der unter Depressionen leidet, deswegen Prozac nehmen muss und dadurch alles in einer rosa Blase sieht.« Mit dieser Beschreibung aber war Godin selber seiner Zeit voraus. Die Depression, von der er spricht, sollte die Hörer von »Moon Safari« – all die unterkühlten Kreativen – erst nach der Jahrtausendwende ereilen. Zwischen 2000 und 2003 brach der Neue Markt in sich zusammen; der »Irgendwas mit Internet«-Boom ebbte ab.
Auch der Höhenflug von Air fand sein Ende. Die rosa Blase war geplatzt. Die Zuhörer brauchen seitdem andere Klänge, um die Gegenwart hinter sich zu lassen. Und andere Drogen. Für Kokain reicht das Geld nicht mehr. Der Art Director von heute verdient oft weniger als eine Kitaleiterin. Was irgendwo gerecht ist.
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