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  • »Die Besessenen« in Hamburg

Aufstand in der Provinz

Die Lessingtage am Hamburger Thalia-Theater wurden mit »Die Besessenen« von Albert Camus eröffnet

  • Andreas Schnell
  • Lesedauer: 5 Min.
Ein brandgefährlicher Debattierclub: Das Personal aus Camus' Drama »Die Besessenen« am Thalia-Theater Hamburg
Ein brandgefährlicher Debattierclub: Das Personal aus Camus' Drama »Die Besessenen« am Thalia-Theater Hamburg

Schon der Titel ist ja nicht ganz einfach zu übertragen: Geht es um Besessene, um böse Geister, um Teufel gar, von denen Dostojewski in seinem 1873 erschienenen Roman erzählt, der in Deutschland als »Die Dämonen« bekannt wurde? Seine Beschäftigung mit den ideologischen Auseinandersetzungen im Russland der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde allerdings auch schon als »Die Teufel« und »Die Besessenen« übersetzt. Ins Deutsche zuletzt mit »Böse Geister« von Swetlana Geier. Albert Camus entschied sich bei seiner dramatischen Bearbeitung des Romans bekanntlich für »Les Possédés«, die Besessenen.

Wie auch immer sich die Übersetzungsfrage lösen ließe: Dass die Figuren in Dostojewskis allegorischem Roman besessen sind von ihren Ideen, ist kaum zu leugnen. Da ist Kirillow, der die höchste Freiheit und den Beweis der Abwesenheit Gottes darin sieht, sich umzubringen. Da ist Nikolai Stawrogin, der an nichts mehr zu glauben imstande ist. Da ist Pjotr Werchowenski, der für seine Revolution auch über die Leichen seiner Mitkämpfer geht. Da ist Lisa Schigalewa, die von einer Gesellschaft fantasiert, in der Gleichheit durch die Herrschaft einer Elite über die Massen entstehen soll. Der Schöngeist Stepan Trofimowitsch Werchowenski, Pjotrs Vater, aber auch Iwan Schatow, der an der Idee eines Gottes festhält, ohne den es ein Volk nicht geben könne, erweisen sich gegenüber dem umstürzlerischen Furor der neuen Generation als machtlos.

Camus las Dostojewski prophetisch als düstere Studie über den Nihilismus, wo er selbst das menschliche Leiden als Grenze der Politik sah. Sein nicht mehr eben oft gespieltes Stück eröffnete am vergangenen Mittwoch die Lessingtage am Thalia-Theater in Hamburg. Eine prominente Position, die die Frage nach der Aktualität des Stoffs noch etwas lauter stellt.

Dostojewski und Camus standen auf ihre Weise an recht unterschiedlichen, aber in manchen Aspekten durchaus vergleichbaren historischen Punkten. In Dostojewskis Russland führte Zar Alexander II. weitreichende Reformen wie die Abschaffung der Leibeigenschaft durch, während Camus seine »Besessenen« inmitten der Tauwetter-Periode nach dem Tod Josef Stalins schreibt. Atmosphären für neue ideologische Entwürfe und deren extreme Auswüchse?

In Russland folgten Attentate auf den Zaren, Brandanschläge, die Zügel wurden wieder straffer gezogen; später fegten Revolutionen das alte Regime hinweg, während die Führung der sozialistischen Welt die Lockerungen bald wieder einkassierte – und eine Weile später vor anderen Mächten kapitulierte.

Jette Steckel, die »Die Besessenen« für das Thalia-Theater eingerichtet hat, verweist in einem Interview im Programmheft auf die »großen weltpolitischen Entscheidungen«, vor denen »wir« stehen. Auf die Frage nach der Ethik von Waffenlieferungen, die »in absolutem Widerspruch zu unserem Grundgesetz« stehen. Und bekanntlich ist ja auch der Klimawandel Anlass zu sich radikalisierenden politischen Überlegungen. Die Menschheit, so Steckel, sei an einem Punkt, »an dem wir anerkennen müssen, dass die Gerechtigkeit eine Beschneidung der persönlichen Freiheit fordert«. »Die Besessenen« also als Mahnung, alte Fehler nicht zu wiederholen?

Wären dann in diesem Sinn Reichs- und Wutbürger einerseits, radikale Klimakämpfer andererseits die potenziellen, von Dämonen getriebenen Wiedergänger? Zumindest fällt es nicht leicht, in den Positionen dieser Geschichte wiederzufinden, was uns heute bewegt. Von einer sozialistischen Revolution, wie Werchowenski sie propagiert, ist wenig zu hören. Und statt der Negation jeglicher Werte und Sinnhaftigkeit der Welt, für die Nikolai Stawrogin steht, hantiert vom dubiosesten Politdarsteller bis zur wild gewordenen Kleinbürgerin noch ein jeder mit hehren Werten wie Freiheit, Gerechtigkeit, Kulturnation oder berechtigten Sicherheitsinteressen.

In den von Dostojewski durchaus mit satirischem Biss gezeichneten Positionen also gegenwärtige Tendenzen zu entdecken, gelingt im Grunde nur, liest man sie als radikale Antworten auf krisenhafte Verhältnisse. Das macht Steckels »Besessene« mitunter zu einer anstrengenden Sache; auch wenn sie die Vorlage um etliche Figuren und Episoden verschlankt hat – die Uraufführung in der Regie des Autors dauerte immerhin vier Stunden. Vor einem apokalyptischen Hieronymus-Bosch-Hintergrund, der im Laufe der pausenlosen zweieinhalb Stunden von Tim Burchardt weiter ausgemalt wird, entwickelt sich das Geschehen auf der Vorbühne (Bühnenbild: Jette Steckel und Nadin Schumacher) wie in einem Druckkochtopf.

Was wie ein philosophischer Debattierclub beginnt, in dem unterschiedliche Ideen vorgestellt werden, eskaliert schnell. Die Faszination der verschiedenen Figuren dieses Abends für den amoralischen Nikolai Stawrogin und den zynischen Revoluzzer Pjotr Werchowenski scheint zwingend angesichts des allgemeinen Konsenses: So kann es nicht weitergehen mit Russland und dem Rest der Welt. Es muss etwas geschehen. Keine Frage: Diese Menschen sind brandgefährlich. In ihrer Macht zum Verführen, aber eben auch in ihrer Verführbarkeit.

Werchowenski will den Umsturz mit allen Mitteln, und weil er weiß, wie sehr seine Mitmenschen auf einen Führer scharf sind, dem sie folgen können, versucht er Stawrogin als neuen Zaren zu gewinnen. Der sich aber nicht vereinnahmen lassen will, auch wenn ihm im Grunde alles egal ist. Dass das alles nicht gut gehen kann, lässt sich auch ohne Dostojewski-Expertise ahnen. Als Worte nicht mehr genügen, marschiert die Gemeinschaft im Gleichschritt zu brachialen elektronischen Beats und Stroboskopblitzen schnurstracks in den Untergang.

Das ist immer wieder durchaus gut anzusehen, zumal hier ein tolles Ensemble auf der Bühne steht, allen voran Sebastian Zimmler als Pjotr Werchowenski, der auch als DJ Strippenzieher des Geschehens ist, während Felix Knopp als Schatow immer mal wieder an der Orgel auf der gegenüberliegenden Seite in leidenschaftlicher Schwermut von Jesus singt. Jirka Zett ist derweil ein sehr physischer Stawrogin, und Julian Greis füllt hinreißend diverse Stadien der geistigen Verwahrlosung aus.

Der inszenatorische Furor in diesem schwarzen Sabbat der Revolution kann allerdings kaum verhehlen, dass der Leerlauf der Figuren ein wenig auch der Leerlauf dieses Abgesangs auf alle Ideologie ist. Was bei Dostojewski und Camus noch als gleichwohl ersterbende Utopie aufschimmert, nämlich das zwar wechselseitige, aber allzu späte Liebesgeständnis des alten Stepan Werchowenski und seiner Vermieterin Warwara Petrowna, fällt aus – auch die Petrowna ist gestrichen. Vertröstet werden wir mit einem Quantum Versöhnlichkeit: Barbara Nüsse, die als weiser alter Lehrer Stepan Werchowenski am Ende allein auf der Bühne ist, gibt dem Publikum mit auf den Weg: »Um frei zu sein, muss man verzeihen. Und Sie: Leben Sie mehr! Adieu …«

Auf dem Weg nach Hause durch kalte, dunkle Straßen vorbei an Obdachlosen erscheint das geradezu zynisch. Sollen wir ihnen zurufen, sie sollten einfach mehr leben?

Weitere Vorstellungen: 20.2. und 5.3.
www.thalia-theater.de

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