Ins Ungebundene

Zum Tod des Schriftstellers und Herausgebers Gerhard Wolf

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Der Schlüsselsatz, vor 20 Jahren, lautete: »Ich kann’s nicht für die Westdeutschen beantworten.« TV-Interviewer Günter Gaus hatte seinen Gast gefragt, worin er Gründe für die anhaltende Fremdheit zwischen Ost und West sähe. Gerhard Wolf zog nicht vom Betroffenheitsleder. Kein Hieb in die Opferkerbe, der manchem Ostdeutschen so gutgetan hätte. Kein Wonnebad in Larmoyanz und Allgemeinplatz. Kein Sympathie-Haschen bei linken Griesgramen vom Dienst. Nicht jener durchwachsene Ton, der sich auskennt in den Wahrheiten – von denen es so viele nicht zu geben scheint, sonst wäre dieser Ton nicht so fest. Nein, bei Wolf das freundliche Geständnis, nur für sich selbst sprechen zu können.

Da saß einer, der nicht Recht haben wollte. Ja, ideal wäre: vor anderen zu sprechen wie mit sich selbst. Diesen Wunsch strahlte er aus: ganz bei sich zu bleiben, wenn man öffentlich wird. Aufklärung nicht als Belehrung, sondern als Selbstforschung. Arbeit am Vertrauen. Schriftsteller und Verleger Gerhard Wolf – ihm vertrauten viele, vor allem junge Lyriker. »Haltet zusammen«, hat er einst – gegen den Druck der geistigen Bedränger – Volker Braun, Heinz Czechowski, Elke Erb, Karl Mickel, Sarah und Reiner Kirsch geraten.

Der Sohn eines Buchhalters und einer Schneiderin, geboren 1928 in Bad Frankenhausen, kam über Schriftsteller wie Seghers oder Andersen Nexö auf die sozialistische Idee (»nie übers Marxistische«). Schon als Redakteur des Deutschlandsenders der frühen DDR-Jahre war er sich der Poesie sicher, er verehrte den Dichter Louis Fürnberg, den er vehement gegen den Stempel verteidigte, er sei nur der Autor jener Lied gewordenen Unerträglichkeit, einzig die Partei habe recht. Die Poesie hat recht! Als Wolf sich im Sender für Rilke engagierte, lehnte sein Chefredakteur ab, meinte aber, daheim lese er den Dichter freilich auch. Ein noch höherer Funktionär dazu: Das sei nicht schlimm – entscheidend wäre doch, dass der Genosse zu Hause Rilke lese, um sich weiterzubilden; bedenklich sei es, wenn er Genuss empfände. »Parteiliche« Doppelgesichtigkeit, bei der sich sogar Janus geschämt hätte.

Wolf hat diesen römischen Gott ehrengerettet, dessen Doppelblick auf die Welt, die inständige Beherzigung von Teil und Gegenteil, waren ihm ein verlässlicher Instinkt. Wolf hat seinen Verlag für Lyrik und Kunst, 1990 gegründet, »Janus press« genannt, und sein Gott schaut sogar in drei Richtungen: ins Überlieferte, voraus ins Moderne und direkt ins Gesicht der Lesenden.

Als Lektor hatte er bereits Gedichte von Peter Huchel, Stephan Hermlin und Erich Arendt zu Büchern werden lassen; und die nächste Generation derer, denen er zu Öffentlichkeit verhalf, hießen Bert Papenfuß, Sascha Anderson, Stefan Döring, Gabriele Kachold, Andreas Koziol, Jan Faktor. Zumeist Prenzlauer Berg: keine Gegend, sondern eine Haltung. Dort beheimatet: eine literarische Autonomie, ein Gehege der Widerstandskraft. Volker Braun: »Hier artikulierte sich eine Jugend, für die es um nichts mehr ging, die Zukunft ist gegessen und die Gegenwart tote Geschichte.« Die Lebensgeschichte des Gerhard Wolf: alt werden zu dürfen mit den Jungen.

Wolf durfte man als Gegenteil eines ängstlichen Menschen betrachten, denn nur der Ängstliche besteht zwanghaft auf klarem Kurs, auf eindeutigem »Entweder-Oder«. Wegen seines Votums gegen die Biermann-Ausbürgerung wurde er aus der SED ausgeschlossen, dem »offiziellen Kommunismus« hatte er schon seit den 50er Jahren immer weniger geglaubt – er war ein heiterer Nicht-Utopist, der kaum auf die Erlösung durch eine schlagende Idee hoffte, sondern den Menschen verstrickt sah in dauernden Wechsel. Nicht nur immer Zugriff, sondern auch Vermeidung – man sah an Wolf, dass diese Gangart liebenswert sein und höchste Grazie haben kann. Gunnar Decker nannte ihn einen »Geburtshelfer des fragenden Wortes«.

Und nun muss bekräftigend von Gerhard und Christa Wolf gesprochen werden, verheiratet seit 1951. Wer ist ohne den anderen zu erklären, wenn zwei ein Leben teilen und in »unüberwindlicher Nähe« (Botho Strauß) einen gegenseitig sich belebenden Eigensinn so sehr behaupten wie behüten. Jana Simon, Enkelin, sprach am Grab von Christa Wolf 2011 von der »idealen Verbindung« zwischen Christa und Gerhard Wolf. Worin dieses Ideal bestehe, habe sie ihre Großmutter gefragt: »Wir haben einander immer etwas gegeben.« Die großen Diskutier- und Essensrunden rief sie ins Gedächtnis. Bewundernswert und fordernd »diese Existenzialität, diese Tiefe«. Daher stets das Gefühl, mit dem Betreten der Wohnung »von Oma und Opa die Schwelle zu einem anderen Jahrhundert zu übertreten«.

Es gibt ein schönes Foto: die Wolfs auf einem Wolgaschiff, auf dem langen Gang zwischen Reling und Schiffsräumen. Einsamkeit. Die Wolga wie ein Meer. Zwei blicken auf dieses Meer. Er, so scheint’s, blickt ein Quäntchen munterer, aufgelegter als sie – vielleicht blickte Gerhard Wolf immer ein Quäntchen aufmunternder, wissender, beruhigender, großmütiger; er war der kühlere, verzweiflungsresistentere und distanzierungsfähigere Geist; er wusste, dass dies seiner Liebe schönster Auftrag war: Kraft und Gegenkraft zugleich zu sein. Ein Ermunterer. Es gibt Ermunterungen, die müssen, in Maßen, immer auch den Mut zur Ernüchterung schüren.

Man kann leben und doch an der Überdosis Ehrgeiz schon gestorben sein – davor hat sich dieser Schriftsteller selber in Stärke bewahrt. Man sieht Menschen ja am Gesicht an, ob sie sich mehr vornehmen, als der Seele guttut, und Gerhard Wolf hatte ein gütiges, entspanntes Gesicht. Im Buch »Ein Tag im Leben« beschrieb Christa Wolf ihren Mann, zitiert ihn indirekt: Ihm gehe es mehr darum, »seine Sache zu machen. Dass dabei keine Weltliteratur herauskomme, wisse er eben, wo entstünde heute überhaupt Weltliteratur, und wer entscheide darüber. Aber deshalb sei doch alles andere nicht unsinnig«.

Auch dieser Buch-Satz passte zu ihm: »Naja, sagt er und zieht sich zurück.« Darin, kommentierte er später, bestehe der Gegensatz zu seiner Frau: Sie gehe eher auf die Menschen zu. Aber er sei nicht »außenseiterisch«. Und serieller Text für den ringsum tobenden Wettbewerb im Verbreiten schlechter Nachrichten war in ihm nicht vorrätig. Wenn er redete, war es, als griffe eine bauende Hand ins reichlich Vorhandene. »Ich bin von Natur aus skeptisch.« So verhinderte er, je zu resignieren.

Der Herausgeber (»Märkischer Dichtergarten«, mit Günter de Bruyn) war ein berückender Autor. Seine Bücher: poetisch, verdichtet, in meisterlichem Rhythmus. Etwa das Porträt über Johannes Bobrowski (»Beschreibung eines Zimmers«) oder das Sammelwerk »Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht – Projektionsraum Romantik«, Texte von Christa und Gerhard Wolf. Darin ein Text berührender als der andere. Kleist und die Günderode, die Arnims und Heine – Essay und Erzählung in faszinierender Paarung.

Hölderlin! »Eine Sehnsucht nach einem reinern, freiern Zustand hat alle Gemüter bewegt und mit der Wirklichkeit entzweit.« So steht es im großen Text »Der arme Hölderlin«, den Gerhard Wolf 1968/69 geschrieben hatte, der in der DDR aber erst drei Jahre später erscheinen durfte. Suspekt erschien ein Denken, das sich mit der Realität überwarf. Der Traum von Freiheit? Ein frecher Traum. Mit dem Erzählen über Hölderlin verfocht der Autor die hartnäckige Hoffnung, dass Öffentlichkeit eine Gewähr für Austausch werden könne. Das war der aufreibende Konfliktstoff, im Staat der großen utopischen Worte, der ein unaufhaltsam ermüdender Kleinstaat blieb. Und auf der Strecke blieb, indem er sich selbst zur Strecke brachte.

»Herzenssache« hieß Wolfs letztes Buch. Ein »Memorial«. Er ruft Begegnungen auf mit prägenden Lebensschreibensmenschen. Was eint alle Porträts? Künstlers erstes Schicksal: das Unglück des unverstellt Sehenden. Künstlers zweites Schicksal: Dies Unglück des Seherischen ist aufgehoben im erhebenden, peinigenden Glück des Schreibens oder Malens.

Wer auf die herausfordernde Lust des Lebens, sich in allem Gegensätzlichen zu spiegeln, nicht mit Porenverschluss reagiert, der strahlt Einverständnis mit den Dingen aus, ein Einverständnis, das überhaupt nichts mit Ergebenheit zu tun hat. Aber viel mit einer Neugier, die vorsichtig bleibt, und einer Vorsicht, die doch weiter Neugier zeugt. Das war das Wesen von Gerhard Wolf, der nun, am Dienstag, im Alter von 94 Jahren gestorben ist.

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