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Wer hat Angst vor den Hunnen?
Vom Steppenreich zum europäischen Staat – eine Sonderausstellung in Halle
Der Traum jedes Schatzsuchers: Als am 3. Juli 1799 der Bauer Nera Vun in seinem Garten nahe des Dorfes Nagyszentmiklós grub, fand er merkwürdige goldglänzende Gegenstände. Damals gehörte der Fundort zum Königreich Ungarn; heute heißt er Sannicolau Mare und liegt in Rumänien. Der Bauer war auf einen der bedeutendsten Goldschätze des europäischen Frühmittelalters gestoßen: insgesamt 23 Goldgefäße, hauptsächlich Krüge, Schalen, Becher, dazu ein Trinkhorn und eine Kanne, die insgesamt fast zehn Kilogramm wiegen und von höchster Qualität sind. Die figürlichen Darstellungen auf einigen Gefäßen zeigen Motive, die im Mittelmeerraum verbreitet waren.
Zwei Gefäße weisen die Form gehörnter Löwen auf, weitere sind mit anderen Mischwesen verziert, sogenannten Adler- und Löwengreifen. Herausragend: ein Krug mit vier großen Medaillons. Eines zeigt einen gepanzerten Reiter mit Lanze, der einen Gefangenen abführt, am Sattel hängt der Kopf eines getöteten Feindes. Kein Wunder, dass das Ensemble schon bald nach seinem Auftauchen »Schatz des Attila« genannt wurde, nach dem Hunnenkönig, der im 5. Jahrhundert Europa in Angst und Schrecken versetzte. Der Schatz gibt immer noch Rätsel auf: Woher stammen die kunstvollen Gegenstände, wann entstanden sie? Bis heute fehlen exakte Vergleichsstücke. Nach Meinung von Forschern dürfte das Tafelgeschirr im 8. Jahrhundert einem awarischen Fürsten gehört haben, vielleicht sogar dem Khagan, dem obersten Führer. Herstellungsort des Tafelgeschirrs könnte Byzanz (Konstantinopel) gewesen sein.
Teile des Schatzes stehen derzeit als Leihgabe des Wiener Kunsthistorischen Museums im Mittelpunkt einer hochgradigen Sonderausstellung im Landesmuseum Halle. Sie führt in die reiternomadischen Reiche der Völkerwanderungszeit und des frühen Mittelalters ein. Während es über solche Nomadenherrscher wie Attila oder Dschingis Khan in Deutschland bereits Ausstellungen gab, vermisste man bisher eine zu einem so komplexen Thema wie das hier behandelte.
Erstmals werden die großen Reitervölker der Hunnen, Awaren und Ungarn in vergleichender Perspektive und mit ihren Beziehungen zu ihren Nachbarn – Germanen, Weströmisches und Oströmisches Reich – vorgestellt. Die Hunnen verheerten auf ihren Feldzügen im 4. und 5. Jahrhundert große Teile Europas, die Awaren gründeten später im Karpatenbecken ihr Reich (6. bis 8. Jahrhundert), das schließlich von den Franken zerstört wurde. Einen anderen Weg gingen die Ungarn (9./10. Jahrhundert). Nachdem sie 955 auf dem Lechfeld bei Augsburg von deutschen Heeren unter König Otto I., dem späteren Kaiser, besiegt worden waren, stellten sie ihre Raubzüge ein, wurden sesshaft, übernahmen das Christentum und gründeten unter der Dynastie der Arpaden einen europäischen Feudalstaat. Sinnbildlich dafür steht die Stephanskrone, eine Nachbildung des Diadems des ersten ungarischen Königs Stephan.
Mit Exponaten von 30 Museen und Sammlungen aus sechs Ländern (Österreich, Tschechien, Ungarn, Polen, Slowakei und Deutschland) gibt die Ausstellung einen Überblick über diese Entwicklung. Das findet seine Ergänzung durch Bildmaterial aus der Mongolei, wo heute noch nomadische Traditionen und Viehwirtschaft lebendig sind. Im vergangenen Jahr war die Ausstellung auf der Schallaburg in Österreich zu sehen. Für Halle wurde sie etwas modifiziert und um einen Bereich ergänzt, der die Spuren der Steppennomaden in Mitteldeutschland in den Blick nimmt. Dazu werden Funde aus Sachsen-Anhalt und Thüringen präsentiert.
Wie die Sonderausstellungen früherer Jahre im Landesmuseum Halle ist auch diese nicht nur gut bestückt, sondern auch hervorragend gestaltet. Der Besucher betritt das Atrium und sofort zieht ihn die Ausstellung in ihren Bann: In der Mitte des Rondells glänzen fünf Gefäße des Goldschatzes von Sannicolau Mare/Nagyszentmiklós, umgeben von weiteren Preziosen. Im Hintergrund ragt die lebensechte Rekonstruktion eines awarischen Reiterkriegers auf, die erstmals im Ausland gezeigt wird. Das Grab des in voller Rüstung und mit Pferd beigesetzten Kriegers wurde 2017 bei Derecske (Ungarn) gefunden. Kampf gehörte zum Alltag der Steppenreiche; ihre Krieger galten als zäh, wendig und diszipliniert, beherrschten Waffen wie Bogen, Lanze und Schwert. So schossen die Hunnen im Reiten mit ihren weit reichenden Reflexbögen, während die Awaren mit dem Säbel fochten.
Eurasien, das weltweit größte zusammenhängende Steppengebiet, das sich über 7000 Kilometer von Nordwestchina bis in den Osten Österreichs erstreckt, bot günstige Bedingungen für die nomadische Viehwirtschaft und Lebensweise. Es waren wohl die eurasischen Steppennomaden, die erstmals Pferde domestizierten. Schließlich brachten die Awaren den Steigbügel nach Europa, eine Innovation, welche die Reiterei revolutionierte. Die nach Europa vordringenden Reiternomaden hatten im Karpatenbecken ihre Basislager, in die sie sich nach ihren Raubzügen zurückzogen.
Aufschluss über ihre Lebensweise geben die Gräber von Mitgliedern der gesellschaftlichen Elite, die auf der Ausstellung mit ihren Beigaben – Schmuck, Waffen, reich verzierten Gürteln und Pferdezaumzeug, Tafelgeschirr etc. – präsentiert werden, zum Teil mit ihren ebenfalls bestatteten Pferden. Dafür stehen die Prunkgräber ungarischer Fürstlichkeiten von Gnadendorf (Österreich) und Zemplin (Slowakei) mit reich verzierten Säbeln. Weitere Teile der Ausstellung sind thematischen Komplexen wie Bewaffnung, Wirtschaft, religiösen Kulten und der Landnahme der Reiternomaden gewidmet.
Eine sehenswerte Exposition, die den Blick weitet – über das herkömmliche Bild von Reiternomaden, darunter den Hunnen, das Kaiser Wilhelm II. martialisch bediente, als er am 27. Juli 1900 in Bremerhaven ein deutsches »Expeditionskorps« zur Niederschlagung des Boxeraufstandes im chinesischen Kaiserreich verabschiedete. Der deutsche Monarch tönte: »Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, daß es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!« Auch daran sollte heute erinnert werden, da die Beziehungen der westlichen Welt zu China als weiter aufstrebendem Global Player auf einen Tiefpunkt gesunken sind.
»Reiternomaden in Europa – Hunnen, Awaren, Ungarn«, bis 25. Juni 2023 im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle, dienstags bis freitags von 9 bis 17 Uhr geöffnet; Samstag, Sonntag und Feiertage von 10 bis 18 Uhr. Begleitband, 294 S., geb., 35,90 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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