Ein kosmisches Minus ergibt kein Plus

Lyrik, wie geht’s, wie steht’s? Zur Verleihung des Peter-Huchel-Preises an Judith Zander

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 3 Min.

Kaum war Judith Zander als Gewinnerin des diesjährigen Peter-Huchel-Preises verkündet, der wichtigsten Prämierung von Lyrik im deutschsprachigen Raum, ging ein Sturm der Entrüstung durch das Netz. Dabei geht es um mehr als Neid oder Missgunst. So hatte der Poet Alexandru Bulucz in der Zeitung »Rheinpfalz« die zentrale Grundsatzfrage für die Entscheidung der Jury aufgeworfen, nämlich: Was charakterisiert überhaupt qualitativ anspruchsvolle, gute Dichtung?

Berechtigt ist diese globale Überlegung anhand der letzten Texte der 1980 in Anklam geborenen Judith Zander allemal. Der Preis wird ihr im April verliehen. Klar ist: Das Handwerkliche, wenn man diesen Begriff überhaupt auf das Verfassen von Gedichten anwenden will, beherrscht sie, wie sie in ihrem letzten Band »im ländlichen sommer im winter zur see« beweist. Mehr klassisch denn innovativ reimt sich darin »zurück« auf »stück« oder »sacht« auf »nacht«. Dasselbe gilt auch für ihre Wort- und Buchstabenspiele. So wurde das »s« zum »z« in »sehnzüchtige[r] aufzucht«. Was allerdings am Sehnen züchtig sein könnte oder worin das Findige, das ästhetische Surplus dieser eigenwilligen Kombination besteht, bleibt unklar. Gewiss ist allenfalls, dass sich die Poeme immerzu um Novitätsgewinn bemühen. Aber was ist beispielsweise mit einer Ausschmückung gemeint, die »bronzen aus legiert / gesessen ist noch nichts verlang / samt geschwärzter nach ruhig kosmisch minus / grade im blut«? Wie stellt man sich zum Beispiel etwas vor, das »legiert / gesessen« ist?

Da Zander, sofern man zwischen Song-Zitaten, Redewendungen und all den bruchstückartigen Versen überhaupt noch Themen identifizieren kann, wohl vor allem auch über traumartige Zustände schreibt, kann man diese Texte mit viel gutem Willen noch als Neo-Dada oder poetische Hermetik bezeichnen. Zutreffender dürfte jedoch die Einschätzung sein, dass sich diese Lyrik vor allem durch Beliebigkeit auszeichnet. Sie labt sich an ihrer eigenen Überkonstruiertheit und raunt in ihrer eigenen Echokammer, ohne dass außerhalb ihrer engen Grenzen jemand noch einen Zugang dazu finden kann.

Eine solche Sperrigkeit ist nicht singulär in der deutschsprachigen Lyrik, sondern die ästhetische Grundausrichtung vieler anderer Lyrikerinnen und Lyriker. Möglicherweise ist sie ein Grund für den seit Jahren zu beobachtenden Poesieverdruss des Publikums. Zu selbstzirkulär, zu akademisch, zu verkopft und sprunghaft lauten da die nicht unberechtigten Vorwürfe.

Immerhin gibt so ein Werk, dessen Qualität zumindest zweifelhafter Natur ist, Impulse für die Überlegung, was denn im Umkehrschluss starke Lyrik ausmachen kann. Ohne normativ sein zu wollen, was dem Freiheitsanspruch dieser Gattung ohnehin gänzlich widerstreben würde, lässt sich mitunter eine stringente Bildentwicklung anführen. Statt unzählige Anspielungen und Motivkomplexe aneinanderzureihen, genügt bisweilen ein metaphorisches Momentum, um in uns ein ganzes Gemälde entstehen zu lassen.

Und damit wären wir auch schon bei einem weiteren Aspekt, der emotionalen Ansprache. Dass politische oder satirische Lyrik primär unseren Verstand adressiert, ist unbestritten. Aber was bewirken etwa Natur- und Liebesdichtung, wenn sie nicht versuchen, uns das Fremde mithin affektiv nahezubringen? Funken müssen überspringen, eine Wucht uns mitreißen. Selbst dort, wo sich Hässlichkeit und Zerstörung als Sujets oder ästhetische Ausdrucksweisen offenbaren, kann sich noch Schönheit zeigen. Vor allem sie fehlt unserer Epoche. Sie in eine neue Form zu gießen, ist dann die Königsdisziplin der Poesie – zum Beispiel im Zeilenumbruch, in den rhetorischen Finessen, in der Mehrdeutigkeit der Worte oder schlichtweg in der Gedankenführung. Das Beste aber liegt dann vor, wenn Dichtung uns gänzlich überrascht!

Judith Zander: im ländlichen sommer im winter zur see. dtv, 96 S., geb., 20 €.

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