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Großbritannien: Historischer Streik
Die Pflegekräfte des britischen NHS streiken, die Regierung blockt
Mit dem bisher größten Streik in der Geschichte des britischen Gesundheitsdienstes National Health Service (NHS) demonstrieren die Pflegekräfte Großbritanniens für bessere Löhne, faire Arbeitsbedingungen und eine gute Gesundheitsversorgung. Die Regierung unter Rishi Sunak verweigert sich Verhandlungen.
Ein bisschen müde sieht der Londoner Rettungssanitäter George beim Interview schon aus. Dabei hat er eine verhältnismäßig kurze Schicht hinter sich: Zehn Stunden am Stück, normalerweise sind es zwölf. George, der seinen Nachnamen nicht nennen will, ist 56 Jahre alt und seit 20 Jahren Rettungssanitäter in London. So schlimm wie jetzt sei die Situation noch nie gewesen, sagt er. Die steuerfinanzierte medizinische Versorgung NHS sei »auf den Knien«, es fehle überall an Personal und an Geld. Er selbst sieht dies jeden Tag vor den Notaufnahmen: »Früher mussten wir zuweilen zehn oder zwanzig Minuten warten, bis wir eine Patientin ins Krankenhaus einliefern konnten«, erzählt er. »Aber jetzt warten wir manchmal bis zu sieben Stunden mit dem Krankenwagen vor der Notaufnahme.« Laut der Königlichen Vereinigung der Notärzte sterben jede Woche 500 Patienten, weil die Krankenwagen vor den Notaufnahmen Schlange stehen.
Ein Grund sind die akuten Engpässe. In den vergangenen zehn Jahren hat die Regierung im ganzen Land mehr als 20 000 Krankenhausbetten abgebaut. Pro 1000 Einwohner hat Großbritannien weniger als drei Krankenhausbetten. Zum Vergleich: Deutschland hat fast acht, der europäische Durchschnitt liegt bei fünf Betten. Auch können viele Patienten, die betreut werden müssen, nicht entlassen werden, weil auch in der häuslichen Pflege die Mitarbeiter fehlen. So stauen sich die Patienten in den Krankenhäusern.
Auch im Rettungsdienst haben die Einsparungen des vergangenen Jahrzehnts spürbare Konsequenzen gehabt: Im Lauf der letzten zehn Jahre ist die Zahl der Notrufe um mehr als 70 Prozent angestiegen, aber die Zahl der Angestellten im Rettungsdienst um gerade mal 7 Prozent. »Der Druck ist unglaublich«, sagt George. Von den 350 Millionen Pfund pro Woche, die die EU-Gegner während der Brexit-Kampagne dem NHS versprochen hatten, ist freilich gar nichts zu sehen. Im Gegenteil: Der NHS hat den Gürtel in den vergangenen Jahren noch enger schnallen müssen, der Ärzteverband British Medical Association spricht von »chronischer Unterfinanzierung«. Der gesundheitspolitische Thinktank Nuffield Trust hat sieht eine Ursache für die Verschlechterung der Personalsituation auch im Brexit. Dieser habe viele NHS-Mitarbeiter aus EU-Ländern zur Rückkehr in ihre Heimat bewogen. Im Krankenpflegebereich sind etwa 50 000 Stellen nicht besetzt.
Diese prekäre Situation bildet den Hintergrund zur Streikkampagne, den die Rettungssanitäter in England derzeit führen – es ist ihr erster Streik seit 30 Jahren. Am Freitag haben George und seine Gewerkschaftskollegen zum vierten Mal in diesem Winter die Arbeit niedergelegt. »Damit ich wieder so viel verdiene wie 2010, brauche ich 15 Prozent mehr Lohn«, sagt George. »Meine Gewerkschaft fordert eine Lohnerhöhung von Inflation plus 5 Prozent, also insgesamt etwa 13 bis 15 Prozent. Diese bessere Bezahlung ist nötig, damit wir die erforderlichen Mitarbeiter rekrutieren und auch behalten können.«
Die Gesundheitsmitarbeiter sehen den Streik auch als eine Gelegenheit, der Öffentlichkeit zu erklären, wie schlimm es um den NHS steht. An Streikposten im ganzen Land sieht man immer wieder Schilder mit der Aufschrift »Streiken, um den NHS zu retten«. »Wir müssen den Leuten klar machen, wo das Problem liegt«, sagt George. »Die Notaufnahmen sind überlastet, weil es nicht genügend Ärzte und Pfleger gibt. Es ist nicht so, dass sie weniger arbeiten: Wir alle im NHS arbeiten doppelt so viel wie zuvor; aber es ist einfach nicht zu schaffen. Alle sind gestresst, machen kaum Pausen, und das gesamte System stagniert.« George hat das Gefühl, dass ihre Argumente ankommen. Die Unterstützung für ihren Streik sei bislang »phänomenal« gewesen, meint er. »Über die Weihnachtstage kamen Leute und brachten uns selbstgebackenes Gebäck, Autofahrer haben uns hupend Solidarität zugesichert, unzählige Leute haben uns die Hände geschüttelt. Die Öffentlichkeit steht hinter uns.« Ein Blick in die Umfragen bestätigt das: Mitte Januar ergab eine Erhebung, dass 52 Prozent der Bevölkerung den Streik der Rettungssanitäter unterstützt, nur 35 sind dagegen.
Ganz anders sieht es jedoch in der Downing Street aus. »Die Regierung scheint es nicht zu kapieren«, sagt George. »Ich habe das Gefühl, sie lebt in einer Parallelwelt. Fast alle Kabinettsmitglieder sind Millionäre und haben eine private Krankenversicherung. Sie wissen gar nicht, was es bedeutet, auf ein staatliches Gesundheitssystem angewiesen zu sein.« Auch nervt sich George über die aggressive Rhetorik, die man aus dem Regierungsviertel vernimmt. Vor einigen Wochen sagte der damalige Wirtschaftsminister Grant Shapps, die streikenden Rettungssanitäter würden »die Leben der Patienten aufs Spiel setzen«. Aber George sagt: »Während des Streiks rücken wir in dringenden Fällen dennoch aus – wenn zum Beispiel ein Notruf eingeht wegen eines Herzstillstands oder eines Schlaganfalls, dann steigen wir sofort in den Rettungswagen und verlassen den Streikposten.«
Die Regierung weist Lohnverhandlungen weiterhin zurück und will mit einem umstrittenen Gesetz das Streikrecht für verschiedene Berufsgruppen einschränken. Aber George hat nicht das Gefühl, dass sie damit auf lange Frist durchkommen wird: »Die Regierung hat sich mit dem falschen Gegner angelegt. Die breite Unterstützung hilft uns enorm. Und der Ärger unter den Lohnabhängigen ist in unzähligen Sektoren zu spüren – die Regierung hat so ziemlich alle in Wut versetzt.« Das Beispiel der Streikenden scheint Schule zu machen: »Meine Gewerkschaft ist in den vergangenen Monaten überrannt worden von neuen Mitgliedern – sie alle wollen beim Streik dabei sein.«
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