- Politik
- Erdbeben in der Türkei und Syrien
»Die Kinder sind die verletzlichsten Opfer«
Jackson Nabaala von der Welthungerhilfe im Gespräch über das Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet
Herr Nabaala, Sie sind in der türkischen Stadt Gaziantep. In der Türkei gibt es Kritik, dass die Regierung zu spät oder in bestimmten Gebieten gar nicht reagiert hat. Können Sie das bestätigen?
Jackson Nabaala arbeitet seit 2006 bei der Welthungerhilfe. Seitdem war der 42-jährige humanitäre Fachmann in verschiedenen Positionen in Kenia, Liberia und der Türkei tätig.
Jackson Nabaala verfügt über sektorübergreifende Erfahrungen in den Bereichen humanitäre Hilfe, Entwicklung und Unternehmen. Er ist als Landesdirektor verantwortlich für Syrien, die Türkei und den Libanon. In Syrien arbeiten 54 Mitarbeiter für die Welthungerhilfe in Afrin, Azaz, Idlib und Dana; in den türkischen Provinzen Gaziantep, Kilis, Mardin und Hatay sind es 185.
Wir konzentrieren uns darauf, dass die Hilfe so schnell wie möglich dort ankommt, wo sie gebraucht wird. Ich kann Ihnen versichern, dass wir jede Unterstützung und Erleichterung seitens der internationalen Gemeinschaft willkommen heißen, um das sicherzustellen. Es gibt aber in jeder Katastrophe von solch einem Ausmaß Herausforderungen.
Inwiefern?
Alles hängt ab von der Infrastruktur wie Straßen, Brücken, Flughäfen, von der Verfügbarkeit von Rettungsteams und Hilfsgütern auf dem Markt etc. Natürlich ist für die Betroffenen die Zeit immer ein Thema, das ist uns bewusst, aber wir sind froh, dass wir uns auf unsere lokalen Partner verlassen können, die sofort handeln können. Es ist klar, dass den Menschen so schnell wie möglich geholfen werden muss, aber diese limitierenden Faktoren machen aus unserer Sicht verständlich, warum die Hilfsmaßnahmen manchmal auf sich warten lassen.
Es gibt auch Vorwürfe, dass die kurdische Bevölkerung und andere Minderheiten, sowohl in der Türkei als auch in Syrien, bei den Rettungs- und Hilfsmaßnahmen vernachlässigt werden.
Wir arbeiten auf der Basis humanitärer Prinzipien und unterscheiden nicht zwischen Menschen hinsichtlich ihrer Nationalität, rechtlichem Status oder politischen Überzeugungen. Mehr kann ich dazu nicht sagen.
Wie hilft die Welthungerhilfe den vom Erdbeben getroffenen Menschen?
In der Türkei haben wir bereits erste Nahrungsmittel und Hygieneartikel an zentrale Sammelstellen in den betroffenen Gebieten übergeben, damit die Menschen schnell versorgt werden. Wir erwarten weitere Notfall-Kits, Nahrungsmittel und warme Mahlzeiten zur Verteilung in der Türkei. In Nordwestsyrien arbeiten wir mit unseren Partnern zusammen, um auf die dringendsten Bedürfnisse einzugehen, und stellen Bargeld, Nahrungsmittel, Fertigmahlzeiten, Decken, Matratzen, Hygiene-Kits, Latrinen und Zelte zur Verfügung.
Was wird in diesem Moment am dringendsten gebraucht?
Wegen des Stromausfalls in allen Gebieten nach den Zerstörungen sind die dringlichsten Bedürfnisse eine angemessene Unterbringung, weil die meisten draußen schlafen, Heizöfen, weil es extrem kalt ist, Winterkleidung, Nahrungsmittel, Trinkwasser, Hygiene-Artikel und auch Toiletten. Einige verlangen auch nach psychologischer Unterstützung, insbesondere die syrischen Binnenvertriebenen: Das Erdbeben ist eine zusätzliche Belastung einer existierenden Krise in Nordwestsyrien.
Wie kommen die Menschen mit diesen unmenschlichen Bedingungen zurecht, insbesondere die Kinder?
Die Situation ist wirklich sehr schwierig. Kleine Kinder müssen mit ihren Eltern draußen in der Kälte schlafen, oft ohne Schutz und wenig Decken. Die Kinder leiden in vielfältiger Hinsicht und sind die verletzlichsten Opfer dieser Katastrophe: Sie haben ihre Angehörigen verloren, sind traumatisiert, werden krank. Unsere Teams in Nordwestsyrien haben berichtet, dass die Menschen, die dazu in der Lage waren, nach dem Erdbeben nach draußen rannten und Zelte aufgebaut haben. Sie haben sich sofort gegenseitig unterstützt. Das zeigt, dass es eine große Geschlossenheit und Solidarität in der Gesellschaft gibt.
Stellt die Welthungerhilfe auch psychologische Unterstützung bereit?
Ja, aber wir haben uns zunächst auf die Überlebenshilfe konzentriert. In unseren laufenden Hilfsprogrammen in Nordwestsyrien haben wir Psychologen, die sich jetzt darauf vorbereiten, ihre Hilfe denen anzubieten, die vom Erdbeben betroffen sind.
Arbeiten Sie auch mit den Behörden zusammen?
Ja. Wir arbeiten sowohl in der Türkei als auch in Nordwestsyrien eng zusammen mit den lokalen Behörden, in beiden Ländern.
Mit wem arbeiten Sie in Nordwestsyrien zusammen? Das Gouvernement Idlib, in dem mehr als eine Million Binnenvertriebene leben, wird zu großen Teilen von Oppositionskräften beherrscht. Und auch die Türkei kontrolliert über ihr nahestehende Gruppen Teile Nordwestsyriens.
Wir von der Welthungerhilfe konzentrieren uns darauf, bedürftige Menschen zu unterstützen. Wir arbeiten eng mit allen zusammen, die daran ebenfalls interessiert sind oder versuchen, einen Weg zu finden, um den Betroffenen zu helfen. Als humanitäre Organisation sind wir politisch neutral.
Gibt es Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit?
Die Welthungerhilfe arbeitet seit Beginn des Krieges in Nordwestsyrien. In dieser Zeit ist es uns gelungen, sehr gute Arbeitsbeziehungen aufzubauen mit unterschiedlichen Akteuren, speziell auf der lokalen Ebene – sowohl in Nordwestsyrien als auch in der Türkei. Ich würde also nicht sagen, dass wir in dieser Hinsicht vor besonderen Herausforderungen stehen.
Kann man sagen, dass die Situation in Syrien schlimmer ist als in der Türkei?
Ich könnte das nicht quantifizieren. Ein syrischer Arzt hat gesagt, dass das Erdbeben an einem Tag mehr zerstört habe als elf Jahre Bürgerkrieg in Nordwestsyrien. Das Erdbeben hat jeden getroffen und die Lage verschärft. Auch in der Türkei sind die Zerstörungen massiv, aber die Hilfsmaßnahmen, die Regierung wie auch die zivilen Strukturen funktionieren besser im Vergleich zu Nordwestsyrien. Das ist der Unterschied. Das Ausmaß der Zerstörung ist überall groß, aber die Fähigkeit der Regierung, in solchen Situationen Rettung und Unterstützung für die betroffenen Menschen zu bieten, ist viel größer in der Türkei als in Nordwestsyrien.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hat von den türkischen und syrischen Behörden gefordert, alle Grenzübergänge zu öffnen, um Hilfsgüter leichter nach Syrien bringen zu können. Wie stehen Sie dazu?
Es sind mittlerweile weitere Grenzübergänge offiziell geöffnet worden, aber sie werden bisher noch nicht alle für Hilfslieferungen genutzt. Es ist wichtig, dass jetzt alle Möglichkeiten voll ausgeschöpft werden und viel mehr Hilfe zu den Betroffenen gelangen kann. Internationale Bemühungen von allen Seiten sind dafür weiterhin nötig und wichtig.
Woher beziehen Sie Ihre Hilfsgüter?
Die meisten erhalten wir vor Ort im Land – in Gaziantep, Mardin oder auch Istanbul –, was immer verfügbar ist. In Nordwestsyrien beziehen wir die Sachen von den lokalen Märkten, die wir auf diese Weise auch stärken; zudem werden die lokalen Güter von der lokalen Bevölkerung problemlos angenommen. Wir wissen aber nicht, wie lange die lokalen Märkte noch funktionieren. Es gibt eine große Nachfrage nach allem, was noch verfügbar ist.
Es gibt Forderungen, die von den USA und der EU gegen Syrien verhängten Sanktionen aufzuheben. Glauben Sie, dass das helfen würde, die Rettungs- und Hilfsmaßnahmen zu beschleunigen?
Jede Initiative, die den Zugang und die Lieferung von Hilfsgütern für die Betroffenen verbessert, wird von der Welthungerhilfe begrüßt.
Was erwarten Sie sich von der deutschen Bundesregierung?
Die deutsche Regierung hat sehr schnell und gut reagiert. Wir haben bereits laufende Projekte, finanziert vom Auswärtigen Amt, und sie haben uns sogar gesagt: Macht weiter und benutzt Fonds laufender Projekte, um den Menschen zu helfen. Gleichzeitig ist die Spendenbereitschaft der deutschen Bevölkerung hoch, wofür wir sehr dankbar sind.
Spenden an die Welthungerhilfe sind über diesen Link möglich.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.