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Tausende demonstrieren vor Parlament in Israel
Die Knesset berät in erster Lesung über den Gesetzentwurf der Regierung Netanjahu zur Reform der Justiz
In der Knesset bereiteten sich die Abgeordneten auf die erste von drei Abstimmungen über die Justizreform vor. Draußen bietet sich für einen Montag ein ausgesprochen unübliches Bild: Mindestens 80 000 Menschen waren vor das Gebäude in West-Jerusalem gekommen, um gegen ebendiese Pläne zu demonstrieren – Vorhaben, die nach Ansicht vieler das israelische Rechtssystem aushöhlen und unter die Kontrolle derjenigen stellen würden, die gerade die Mehrheit im Parlament stellen. Denn die könnten mit ihrer Mehrheit von 61 Stimmen jederzeit jedes Urteil des obersten Gerichtshofs überstimmen, hätten bei der Ernennung von Richter*innen und Staatsanwält*innen das letzte Wort.
Vor allem Justizminister Jariv Levin, Abgeordneter jenes Likud, dessen liberale Vorgänger-Parteien seit den 30er Jahren das Rechtssystem in intensiven Debatten mitgeprägt haben, betont zwar immer wieder, dass es alles Linke seien, die da jetzt auf die Straße gehen. Doch unter den Demonstrant*innen finden sich viele Menschen, die aus traditionellen Likud-Familien stammen. »Diese Politiker zerstören alles, wofür unsere Eltern und Großeltern gekämpft haben«, sagt Ya’akov Alsberg, ein 30-jähriger Arzt, der noch vor Monaten von sich sagte, dass er sich nicht vorstellen könne, jemals etwas anderes zu wählen als den Likud. Am Montag protestierte er mit seiner gesamten Familie, allesamt angestammte Likudnikim, vor der Knesset.
Weniger sichtbar ist das, was derzeit in der Fraktion von Regierungschef Benjamin Netanjahu vor sich geht: Offen reden will keiner der Abgeordneten, aber im persönlichen Gespräch ist der Dissens deutlich spürbar. Nur: Was tun? Stimmt man dagegen, drohen Strafmaßnahmen. Tritt man zurück, rückt jemand nach, der oder die hinter der Reform steht. Das System Netanjahu ist darauf angelegt, Ja-Sager*innen auf die aussichtsreichsten Listenplätze zu befördern und alle anderen kaltzustellen. Und solange der Chef für gute Wahlergebnisse sorgte, ließ die Partei es mit sich machen. Nur wie lange noch? Diese Frage wird derzeit immer wieder gestellt – und auch: Wie groß wird der Schaden am Ende sein?
Die israelische Gesellschaft scheint tief gespalten. Oppositionschef Jair Lapid sagte vor Journalisten, eine Verabschiedung des Gesetzes würde »das Ende der demokratischen Ära dieses Landes« markieren. Netanjahus Regierung bezeichnete er als »extremistisch und korrupt«. Bereits am Sonntagabend hatte sich der israelische Präsident Jitzchak Herzog zu Wort gemeldet und Netanjahu in einer seltenen TV-Ansprache an die Nation aufgefordert, die erste Lesung auszusetzen, um einen Dialog zu ermöglichen – vergeblich, wie man weiß. In der ungewöhnlich emotionalen Ansprache warnte Herzog, Israel stehe »am Rande eines rechtlichen und gesellschaftlichen Zusammenbruchs«. Das Staatsoberhaupt forderte die Regierung auf, den Gesetzgebungsprozess zu unterbrechen und mit der Opposition nach einem Kompromiss zu suchen.
Nach dem Abschuss einer Rakete aus dem Gazastreifen bombardierte Israels Luftwaffe am Wochenende dort ein Ziel. Es habe sich um eine unterirdische Waffenfabrik der Hamas gehandelt, so das Militär. Die Hamas bestreitet dies und sagt, es sei ein Festsaal gewesen. Unmittelbar danach feuerte eine kleinere militante Gruppe mehrere Raketen ab, die allerdings keinen Schaden anrichteten. Bei einem Militäreinsatz in Nablus im israelisch besetzten Westjordanland wurde ein 22-jähriger Palästinenser getötet. Er sei Kämpfer des bewaffneten Flügels der Hamas gewesen, gab die Organisation bekannt. Es war der bislang letzte in einer immer länger werdenden Serie von Militäreinsätzen in palästinensischen Städten. Bislang starben dabei mindestens zwölf Menschen, darunter auch Unbeteiligte.
Die Regierung begründet die Einsätze mit mehreren Anschlägen in den vergangenen Wochen. Itamar Ben Gvir, Minister für innere Sicherheit und Spitzenpolitiker von Netanjahus rechtsradikalem Koalitionspartner, der als Wahlbündnis »Religiöser Zionismus« auftritt, kündigte Ende vergangener Woche gar einen umfassenden Militäreinsatz in Ost-Jerusalem an. Bislang gibt es keine Anzeichen dafür, dass dieses Vorhaben umgesetzt wird. Die Militärführung warnt, dass dies eine massive Eskalation zur Folge haben würde. Und Regierungschef Netanjahu betont in solchen Situationen stets, er werde schon dafür sorgen, dass alles im »grünen Bereich« bleibe.
Doch die Forderungen der Rechten werden immer lauter und deutlicher, von einem Koalitionsbruch ist mittlerweile fast täglich die Rede. Und so gestand Netanjahu Ben Gvir und seinen Leuten am Sonntag zu, neun ohne Genehmigung gebaute Siedlungen nach israelischem Recht zu legalisieren – ausdrücklich als Vergeltung für die Anschläge.
Bedürfnisse meldet mittlerweile aber auch die ultraorthodoxe Partei Schas an, die nach wie vor daran knabbert, dass Netanjahu auf Anordnung des Obersten Gerichtshofs Innen- und Gesundheitsminister Arijeh Deri feuern musste: Deri wurde wegen Korruption und Steuerhinterziehung verurteilt und war insgesamt 22 Monate inhaftiert. Nun möchte Schas gerne durchsetzen, dass an der Klagemauer das Tragen »unangemessener Kleidung« sowie das Abspielen von Musikinstrumenten unter Strafe gestellt werden. Außerdem soll Frauen der Vollzug bestimmter religiöser Riten untersagt werden. Im Judentum haben sich in den vergangenen Jahrzehnten Strömungen entwickelt, in denen Frauen Rollen einnehmen, die in der Ultraorthodoxie Männern vorbehalten sind.
Unterdessen kündigte Bundesjustizminister Marco Buschmann an, er werde noch im Februar nach Israel reisen, um sich mit seinem Amtskollegen Levin zu treffen.
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