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  • Ausstellung »Margaret Raspé: Automatik«

Die Entfremdung verfremden

Margaret Raspé war eine Pionierin der Videokunst. Nun ist eine erste große Retrospektive ihres Werks in Berlin zu sehen

  • Lena Böllinger
  • Lesedauer: 6 Min.
Der Blick geht oft nach unten: Margaret Raspé »Sekundenplastiken«, 1974
Der Blick geht oft nach unten: Margaret Raspé »Sekundenplastiken«, 1974

Auf den sprichwörtlichen zweiten Blick gerät die Realität ins Rutschen: Eine unauffällige Banalität entblößt ihren brutalen Kern, blinde Routine entfaltet Kreativität, Alltägliches wird fremd, absurd, zum Forschungsgegenstand. Die Berliner Multimedia-Künstlerin Margaret Raspé hat ein gutes Gespür für derartige Kippmomente im Alltag – vom Sadismus in der heimeligen Küche über Gift im idyllischen Fluss bis hin zum Teekessel als malendem Instrument. Das Haus am Waldsee in Berlin-Zehlendorf zeigt nun erstmals eine umfassende Retrospektive der 90-jährigen Künstlerin.

Im Zentrum der Ausstellung stehen kurze Filme, die Raspé mit einer Helmkamera aufgenommen hat. Lange bevor alle mit einem Smartphone sich und die Welt beobachteten, tüftelte die Künstlerin Anfang der 70er über zwei Jahre lang an einer passenden Vorrichtung. Auf einem Bauarbeiterhelm befestigt sie schließlich eine leichte Super-8-Agfa-Kamera, genau vor ihrem Gesicht. Die Konstruktion wird am Bauch zusätzlich abgestützt, sodass sie hält. Derart ausgerüstet marschiert Raspé in die Küche und filmt, was sie dort als inzwischen alleinerziehende Mutter Ende 30 seit Jahren täglich tut.

Margaret Raspé hat nach einer Schneiderlehre Kunst in Berlin und München studiert, anschließend jedoch geheiratet, drei Kinder bekommen und als Modedesignerin gearbeitet. Erst nach ihrer Scheidung 1971 nimmt sie ihre künstlerische Karriere wieder auf.

In ihrem ersten Kamerahelmfilm »Schweineschnitzel« (1971) sieht man zunächst ein vergnügtes Schwein in freier Wildbahn. Schon im nächsten Schnitt wird allerdings ein rohes Stück Fleisch eingeblendet, dessen Zubereitung in allen Details akribisch festgehalten wird. Ein weiterer Film trägt den Titel »Der Sadist schlägt das eindeutig Unschuldige« (1971). In einem Interview mit dem Münchner Kunstmagazin »Florida« sagte Raspé: »Als ich die Schlagsahne schlug, schien mir das wie eine sadistische Aktion. Ich habe die Schlagsahne tatsächlich so lange geschlagen, bis sie zu Butter wurde. Eine sehr aggressive Bearbeitung, selbst mit einer Maschine …«

Der Film »Oh Tod, wie nahrhaft bist du« (1972/73) wird expliziter. Die Künstlerin filmt, wie sie ein Huhn tötet, indem sie ihm den Kopf abschlägt. Blut spritzt in alle Richtungen. Sie rupft es, nimmt es auseinander, würzt es. Die Kamera ist dicht am Geschehen. Später folgt ein Schnitt. Man sieht ein in Plastik verpacktes Supermarkthähnchen. Es wird ausgepackt, eine etwas trübe Flüssigkeit läuft aus ihm heraus. In der Zeitschrift »Frauen und Film« schreibt Margaret Raspé 1976 über den Film: »Ich wollte wissen, was der Tod ist – den Moment kennen, in dem Leben in Tod umbricht. Ich habe noch nie vorher ein Tier bewusst getötet. Ich wollte den Moment fühlen, in dem der fließende Wechsel des Lebens durch etwas unterbrochen wird, das ich tue, um zu essen: den Tod realisieren, der in unserer technischen Gesellschaft sorgfältig versteckt wird.« Der Film stellt diesem konkreten, blutigen Tod jedoch den anonymen, sterilen Tod des Supermarkthähnchens gegenüber. »Der Zusammenstoß dieser beiden Realitäten war ein großer Schock«, schreibt Raspé.

Dass die Küche im Zentrum von Margaret Raspés ersten künstlerischen Arbeiten als Mutter steht, ist kein Zufall. In einer Vitrine in der Ausstellung liegt ein Dokument, in dem sie ihre damalige Situation beschreibt: »1970 fing ich an, mit Film zu arbeiten. Nach einer langen Periode mit Kindern, Garten- und Hausarbeit. Ich fühlte, dass ich nicht mehr aufnehmen konnte, was es zu sehen, hören, riechen, schmecken, tasten gab, als das, was für eine bestimmte Arbeit unmittelbar notwendig war. … Ich war im automatischen Funktionieren eingesperrt.«

Die Selbstbeobachtung mit der Helmkamera befreite mittels Verfremdung aus der Entfremdung. Die Tätigkeiten hatten Rhythmus, unterlagen einer unbewussten Choreografie. Margaret Raspé macht Kunst aus der alltäglichen Banalität und Routine – zu einer Zeit, in der Hausarbeit eher als Instinkt denn als Arbeit gilt. Dabei entsteht kein Küchenkitsch. Weder romantisiert Raspé die Arbeit, noch wertet sie sie als minderwertig ab. Stattdessen staunt man als Zuschauerin über die intensive Sinnlichkeit, Präsenz und Exaktheit des scheinbar Trivialen.

In einem gänzlich anderen Sinne setzt sich Margaret Raspé in einer weiteren Werkgruppe mit dem »automatischen Funktionieren« auseinander. Die Ausstellung zeigt mehrere sogenannte automatische Zeichnungen und Gemälde. Hier geht es nicht um die Befreiung aus dem Automatischen, sondern umgekehrt: Das Automatische soll befreien. Die Hand soll unwillkürlich zeichnen oder malen; das Unbewusste soll übernehmen, der planende, zielorientierte Verstand möglichst ausgeschaltet werden. Auch einige dieser Arbeiten hat die Künstlerin mit ihrer Helmkamera aufgenommen.

Margaret Raspé ist jedoch nicht nur im Film und der Malerei zu Hause, sondern beschäftigt sich auch intensiv mit Körperarbeit, Performances, Konkreter Poesie und Installationen. Gleich am Eingang der Ausstellung hängen kleine Fernsehgeräte, vor deren Bildschirmen Bienenwaben befestigt sind. Später sind dieselben Wabenfernseher zu einem »Fernsehfrühstück« drapiert. Zwischendurch passiert man auf dem Boden verteilte weiße, flauschige Wollkugeln, aus denen es klingelt – Margaret Raspé hatte sich Glocken auf die Finger gesteckt, als sie die Wolle zupfte. Die Kugeln liegen auf Fotografien von flachem Meerwasser, ein Hinweis auf Raspés Auseinandersetzung mit ökologischen Fragen, insbesondere der oft unsichtbaren Verschmutzung von Gewässern.

So ist in der Ausstellung auch die Performance »Wasser ist nicht mehr Wasser« dokumentiert, bei der Raspé in weißem Gewand singend in einen industriell verseuchten Fluss in Polen steigt. Im Interview mit »Florida« erinnert sich Raspé: »Bis zum Hals im Wasser liegend, brach meine Stimme. Nur noch jaulend und hustend, fühlte ich mich wie ein sterbender Seehund. Mein Körper reagierte konkret, das Hemd färbte sich schwärzlich. Da hat der Körper reagiert, da war’s zu kalt, das war dreckig, und die Stimme mit den Obertönen hat nicht mehr funktioniert, ich habe gejault, konnte nicht mehr singen.«

Fatalistisch oder moralisch sind Raspés Arbeiten nie. Wenn der Druck der persönlichen oder gesellschaftlichen Katastrophen zu groß wird, macht sie auch daraus einfach Kunst: Im hinteren Teil der Ausstellung trifft man auf die automatischen Gemälde eines Teekessel-Orchesters. »Ich suchte eine Metapher für Druck, Schrei und im Bild kondensierte Entäußerung«, wird Raspé im zugehörigen Begleittext zitiert. Vor weißen Leinwänden mit wasserlöslichen Pigmenten stehen elektrische Teekessel. Kocht das Wasser, beginnen die Kessel mit ihrem Pfeifkonzert, zugleich malt der herausschießende Dampf Bilder auf die Leinwände.

Die Retrospektive gibt einen umfassenden Einblick in Themen, Arbeitsweise und Entwicklung des Werks von Margaret Raspé. Leider fehlen an vielen Stellen biografische, (kunst)historische und werkspezifische Einordnungen, sodass sich manches Exponat beim Besuch allein kaum erschließt, geschweige denn die internationale Bedeutung dieser vielseitigen Künstlerin. Ein Besuch lohnt sich dennoch.

»Margaret Raspé: Automatik«, bis zum 29. Mai, Haus am Waldsee, Berlin.

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