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»Enthüllungen« zu Nordstream nicht stichhaltig
Jan van Aken über die Sprengung der Ostsee-Pipeline Nordstream
Seymour Hersh ist eine journalistische Ikone. Er deckte das Massaker von My Lai und die Folter in Abu Ghraib auf. Ihm verdanken wir seit über 50 Jahren tiefe Einblicke in die schmutzige Welt der US-Kriegsführung. Jetzt macht eine neue Enthüllungsstory große Wellen: Es waren, so Hersh, die USA, die die Gaspipeline Nordstream im September vergangenen Jahres gesprengt haben. Die Geschichte liest sich wie ein echter Thriller, hört sich logisch an – aber ist sie auch wahr?
Ich weiß es nicht, und das ist eine unbefriedigende Antwort. Viel schlimmer noch: Ich befürchte, wir werden die Wahrheit nie erfahren, denn der Tatort liegt 70 Meter unter der Wasseroberfläche. Fernab von jeder Öffentlichkeit, zu tief für Hobbytaucher und technisch so schwierig zu untersuchen, dass es keine unabhängigen und neutralen Bilder von der zerstörten Pipeline gibt. Alles, was aus der dunklen Tiefe der Ostsee an die Oberfläche dringt, ist mindestens ein Dutzend Mal von staatlichen Stellen gefiltert worden.
Die Bundesregierung, die die Untersuchungen in der Tiefe durchführt, ist nicht neutral. Sie kann deshalb keine überzeugende Aufklärungsarbeit leisten. Nur mal angenommen, sie würde tatsächlich Hinweise für eine tatsächliche Tatbeteiligung der USA finden – ich kann mir nicht vorstellen, dass wir das jemals erfahren würden. Zu klar sind die gemeinsamen Interessenlagen definiert, zu groß die gegenseitigen Abhängigkeiten.
Um mich zu überzeugen, um die Menschen hier in Deutschland und weltweit zu überzeugen, bräuchte es eine transparente und unabhängige Untersuchung. Umso irritierender ist es, dass wir seit Monaten nichts mehr hören. Warum werden nicht Videos und Fotos von der Unglücksstelle online gestellt? Warum nicht wöchentliche Besprechungen der Untersuchungskommission eingeführt? Warum nicht Uno-, US- und russische Beobachter*innen eingeladen? Nur so lassen sich die Propagandalügen des Kremls kontern, nur so werden künftige Verschwörungstheorien schon im Ansatz ausgehebelt.
Das Argument »laufende Ermittlungen« sticht hier nicht, denn es geht um die Frage von Krieg und Frieden. Es ist nicht nur eine polizeiliche Ermittlung, sondern auch eine politische. Niemand fordert, dass alle Erkenntnisse und jedes Asservat der Ermittlung öffentlich gemacht werden – aber fünf Monate Schweigen sind das Gegenteil von Transparenz.
Seymour Hersh macht es leider nicht besser. Seine Erzählung basiert nur auf einer einzigen Quelle, die – so der US-Journalist – »direktes Wissen über den Prozess« hatte. Also wohl nicht mal direkt beteiligt war, sondern nur davon wusste. Wenn überhaupt. Eine Geschichte, die nur eine Quelle kennt und nicht anderweitig überprüfbar ist, ist aber leider nur das: eine Geschichte. Weder ein Beweis, noch ein Hinweis, noch eine Enthüllung. Was für die Bundesregierung gilt, muss genauso auch für Hersh gelten: Glauben reicht nicht, es braucht Belege und Überprüfbarkeit. Selbst wenn Hersh nach bestem Wissen und Gewissen gearbeitet hat: Er selbst kann einer bewussten Täuschung dieser einen Person unterlegen sein. Es ist Krieg, und im Krieg gehen Dutzende Geheimdienste ununterbrochen ihrer schmutzigen Arbeit nach.
Auch die von links gern gestellte – und oft richtige – Frage nach dem Nutznießer hilft nicht weiter. Ja, die USA hätten durch die Sprengung von Nordstream am meisten zu gewinnen, und Biden könnte mit so einer Aktion der Stärke seine Wiederwahl wohl wahrscheinlicher machen. Aber Geheimdienste denken zwei, drei, vier Mal um die Ecke. Vielleicht war es Russland, um es mit genau diesem Argument den USA in die Schuhe zu schieben? Oder doch die USA, um Russland eine false-flag-Operation vorzuwerfen? Oder ein drittes Land, um… Da können wir uns so lange im Kreis drehen, bis uns schwindelig wird.
Es ist und bleibt leider richtig: Das erste Opfer des Krieges ist immer die Wahrheit.
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