- Politik
- Proteste im Iran
Erst die Freiheit, dann ein neues System
Der Widerstand im Iran ist stiller und subtiler geworden. Aber das Regime hat nicht gewonnen
Für einige Momente hatten die alten Männer mit den Bärten ihren Schrecken verloren. Da waren die Frauen, die als Männer verkleidet versuchten, ins Fußballstadion zu gelangen; da war der Aufpasser vom »Innenministerium«, also wahrscheinlich irgendwas mit Geheimdienst, der auf der stundenlangen Fahrt durch die iranische Einöde die »Earth, Wind and Fire«-Playlist rauf und runter grölte. In Teheran sprach derweil Hassan Ruhani, damals Präsident, ziemlich offen und öffentlich von Frauenrechten und dass er davon gerne mehr hätte.
Heute ist das Geschichte. In den vergangenen Monaten sind die Menschen überall im Land auf die Straße gegangen, um für persönliche Freiheiten zu demonstrieren. Frauen haben öffentlichkeitswirksam ihre Kopftücher abgezogen, Fußballspieler die Nationalhymne nicht mitgesungen. Hunderte wurden von den militärischen Einheiten getötet, Tausende inhaftiert. Nun sind diese Bilder aus den Medien im Ausland weitgehend verschwunden; immer seltener scheint es Massenproteste zu geben.
Hat das Regime gewonnen? Ist es ihm gelungen, die Proteste mit Gewalt niederzuschlagen? »Du hast es doch selbst miterlebt«, sagt Nasser*, ein Kontakt im Land: »Die Revolution hat begonnen, lange bevor ihr im Westen es mitbekommen habt.« Und ja, wenn man zurückblickt, auf vergangenen Jahre, dann wirkten große Teile der Bevölkerung und das Regime aus Ajatollah, Gremien, Regierung und Justiz wie ein Paar, das zusammenlebt und sich überhaupt nichts mehr zu sagen hat. »Ich glaube nicht, dass wir uns jemals geliebt haben«, sagt Said*, ein anderer Bekannter im Iran, der als Jugendlicher die Umwälzungen der 80er Jahre miterlebt hat: »Unter dem Schah war meine Familie bitterarm, nur weniger als zehn Prozent des Volks bildete die Mittel- und Oberschicht. Und dann kam der Ajatollah und versprach, das zu ändern. Wir hatten damals Hoffnung auf ein besseres Leben. Aber wir waren eben auch nicht streng religiös, spirituell eher, wie viele andere auch. Und plötzlich mussten die Frauen Kopftücher tragen und ihr Leben nach religiösen Regeln ausrichten.«
Einer, der damals maßgeblich dazu beitrug, jeglichen Widerspruch im Keim zu ersticken, war der heute 62-jährige Ebrahim Raisi. Nun ist er Präsident; seine Karriere begann früh und war steil: Als 20-Jähriger wurde er 1981 Staatsanwalt, 1988 war er bereits stellvertretender Generalstaatsanwalt von Teheran. Nach Angaben der Vereinten Nationen soll er in diesen Jahren mindestens 5000 Todesurteile gegen Regimegegner*innen erwirkt und dafür gesorgt haben, dass jedes einzelne davon vollstreckt wird.
Sein vorerst letzter Karriereschritt zeigte zugleich, wie die Stimmung in der Bevölkerung und im Regime ist. Der Präsident wird im Iran ziemlich frei und transparent vom Volk gewählt; die Auswahl der Kandidaten ist es, die den Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie ausmacht. Der Wächterrat ließ vor der letzten Wahl nur Kandidaten antreten, die exakt den Vorstellungen des Regimes entsprechen: streng konservativ und zu 100 Prozent dem Konzept der »Islamischen Revolution« ergeben. Raisi gewann mit 72,35 Prozent der abgegebenen Stimmen. Doch nur 48,48 Prozent der Wahlberechtigten gingen zur Wahl. Unter dem Strich erhielt er also nur 35,08 Prozent aller möglichen Stimmen.
Es ist davon auszugehen, dass es sich bei diesen 35 Prozent auch um jenen Teil der erwachsenen Bevölkerung handelt, der fest hinter dem Regime steht. Denn schon vor der Wahl war klar gewesen, wer dieser Kandidat ist und wofür er steht. Nun bringt Raisis Umfeld ihn immer wieder als Nachfolger von Ajatollah Ali Khamenei ins Spiel, und vieles deutet darauf hin, dass er auch der bevorzugte Kandidat Khameneis ist: Öfter als andere Präsidenten ist Raisi bei Khamenei zu Gast, und öfter als früher stellt sich der Ajatollah auch öffentlich hinter die Politik des Präsidenten.
Khamenei ist mittlerweile 83 Jahre alt; es gibt Berichte, er leide an Krebs. In jedem Fall wird irgendwann in den kommenden Jahren ein Nachfolger ernannt werden müssen. Offiziell wird die Entscheidung darüber im Expertenrat gefällt, dessen 88 Mitglieder vom Volk gewählt werden, nachdem der Wächterrat sein diktatorisches Auge auf die Kandidat*innen geworfen hat.
Allerdings: 2016, als das Gremium zuletzt gewählt wurde, hatten die Reformer*innen einfach so viele Kandidat*innen aufgestellt, dass der Wächterrat nicht mehr alle genau prüfen konnte. Am Ende hatte man eine Mehrheit im Expertenrat. Das Problem: Alle, die die grundlegenden Anforderungen an das Amt erfüllen, sind schon bei der Wahl so alt, dass sie mit einiger Wahrscheinlichkeit im Laufe der achtjährigen Wahlperiode sterben. Wie die Mehrheitsverhältnisse dort heute aussehen, kann keine*r mehr auch nur im Ansatz sagen. Einigermaßen sicher ist aber, dass auch Reform-Urgesteine wie Hassan Ruhani und Mohammad Khatami zumindest auf der Kandidatenliste stehen.
Khatamis Wahlsieg im Jahr 1997 zeigt auch, dass der Wunsch nach Freiheit nicht erst vor ein paar Monaten entstanden und auch keine Lustbarkeit »dieser aufrührerischen Jugend« (Raisi) ist: 79,92 Prozent gingen damals zur Wahl; 69,1 Prozent wählten Khatami, der dann politisch in den Mühlen des Regimes aufgerieben wurde. Seitdem wirkt es so, als sei jede Wahl erst einmal ein Wettstreit Volk versus Ajatollah: Die einen versuchen, ihre Leute durchzubringen; der andere versucht, das zu verhindern.
»Man könnte auch sagen, dass es ein Kampf gegen die alten Männer ist«, sagt Said: »Denn wenn man genau hinschaut, sieht man, dass so gut wie das gesamte Regime ausschließlich aus den Leuten besteht, die schon in den 70er und 80er Jahren dabei waren. Da kommt niemand Neues nach.« Und tatsächlich: Fast alle Konservativen im Parlament, in der Regierung, in der Justiz, in den Gremien sind über 60.
Dass der Systemwechsel bevorsteht, daran hatte wohl im Land selbst niemand geglaubt: Man wollte Freiheit, und zwar nicht nur die Freiheit, mit oder ohne Kopftuch zu leben, sondern auch die, seine Meinung zu sagen zu den drängenden sozialen und politischen Fragen des Landes. Alles andere: Schritt für Schritt. In den Gesprächen wird auch häufig angemerkt, dass Situationen wie in Syrien, in Libyen oder im Jemen vermieden werden müssten. Das Land müsse stabil bleiben: »Erst die Freiheit, dann ein neues, säkulares System.« Und dabei klingt nicht erst jetzt die feste Überzeugung durch, dass die »Islamische Revolution« nur ein vorübergehendes Phänomen sei, es klingen Optimismus und auch Todesmut heraus: Alle Bekannten wollten ihre Namen nennen.
Nach den Massenprotesten sind die Menschen zu subtileren Formen des Protests übergegangen: Man boykottiert Feiern zu offiziellen Anlässen wie dem Jahrestag der Islamischen Revolution, Frauen gehen ohne Kopftuch auf die Straße. Pärchen laufen in der Öffentlichkeit Hand in Hand. Es sind kleine Meldungen, die zusammen einen immer noch großen Protest ergeben. Und wahrscheinlich wird es wieder Tausende Bewerber*innen für ein paar öffentliche Ämter geben, wenn die nächste Wahl ansteht.
* Namen von der Redaktion geändert
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