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Armutsbetroffene werden ignoriert
Olivier David über das Abstimmungsverhalten bei der Berlin-Wahl
Bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus wählten laut infratest dimap 39 Prozent der Berliner mit »einfacher Bildung« die CDU, 15 Prozent die AfD und zwei Prozent die FDP. Zusammengerechnet haben also 56 Prozent der Menschen mit einfacher Schulbildung rechte und wirtschaftsliberale Parteien gewählt. Für den Journalisten Mario Sixtus ist die Sache klar. Auf Twitter schrieb er: »CDU: ›Die Ausländer mit den komischen Vornamen verhauen Polizisten, und die Grünen wollen Euch zum Gendern zwingen, Euch die Schnitzel und die Autos wegnehmen!!1!‹ Wer wählt sowas?« Darunter postete Sixtus eine Grafik. Was Sixtus damit meint: Je geringer der Bildungsstand, desto höher das Ergebnis für Parteien rechts der Mitte. In dieselbe Kerbe haut auch der Tweet eines weiteren Kommentators. »Erstaunlich, wie viele unserer Probleme wir mit mehr Bildung lösen könnten #Berlinwahl2023 #Gruene.« Das Dogma der Bildung als Lösung für gesellschaftliche Probleme verkommt so zum inhaltsleeren Mantra Linksliberaler.
Dass Bildung und rechtes Gedankengut nicht automatisch zusammenhängen, beschreibt der Soziologe Aladin El-Mafaalani in seinem Bestseller »Mythos Bildung«: »Mit dem Schulabschluss allein lassen sich diese Orientierungen nicht erklären. Die Überrepräsentanz von Akademikern unter den aktiven Populisten, Extremisten und Terroristen zeigt eher, dass es enttäuschte Erwartungen und erlebte Abwertungen sein können, die zu Radikalität führen.«
Die größte Schieflage bei der Berlin-Wahl ist selbstredend eine soziale; sie liegt aber quer zu dem, was Sixtus und Konsorten als Problem benennen. Der Anteil an Nichtwählern ist auf knapp 900 000 gestiegen. Gemeinsam mit den 1,3 Millionen Berliner*innen, die zu jung sind oder keinen deutschen Pass haben, machen sie den weitaus größten Anteil aus. Die Wahl zeigt also vor allem ein Problem bei der Frage, wer sich von ihr überhaupt angesprochen fühlt – immer weniger! Nur 42 Prozent der Berliner*innen haben gewählt. So kommt es, dass die CDU als stärkste Kraft mit 28,2 Prozent der Stimmen nur von 11,6 Prozent der Einwohner*innen Berlins gewählt worden ist. Für eine repräsentative Demokratie ist das schon sehr wenig Repräsentanz.
Zugegeben, diese Kolumnenfolge ist hartes Brot: so viele Zahlen und Daten. Das ist ganz schön trocken. Doch nicht minder trocken ist die politische Realität. Und um ihr angemessen entgegenzutreten, braucht es ein genaues Verständnis vom Status Quo.
Also weiter im Text. Eine Studie, die 2016 im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums erstellt wurde, kommt zu dem Schluss, »dass die Politik des Bundestages häufiger auf die Ansichten und Anliegen der obersten Einkommensschichten reagiert, die Meinung der unteren und mittleren Einkommensschichten dagegen kaum beachtet oder missachtet«. Und weiter: »Auf eine Übereinstimmung zwischen den eigenen Präferenzen und politischen Entscheidungen können untere Einkommensgruppen nur hoffen, wenn diejenigen mit hohem Einkommen dasselbe wollen.«
Diese Zahlen von 1998 bis 2015 sind politischer Sprengstoff, bedeuten sie doch, dass wir eine Kaste aus Menschen haben, die eine Politik verfolgen, die den Interessen Armutsbetroffener und weiter Teile der Bevölkerung diametral gegenübersteht. Und bevor ich zur Strafe dreißigmal den Satz »Ich werde nie wieder so viele Zitate in einen Text einbauen« tippe, verzeihen Sie noch ein allerletztes Zitat. Es stammt von Jan Schippmann, Journalist des »Funk«-Formats »Die Da Oben«. Seine Lehre aus der Berlin-Wahl angesichts der vernichtenden drei Prozent, die die FDP von Menschen, die sich in schlechter finanzieller Situation befinden, bekommen hat, ist folgende: »Die FDP muss sich mehr um ihre Sozialpolitik kümmern.«
Im Bund setzt die FDP das direkt um. Derzeit überlegt sie, ob der ermäßigte Satz der Mehrwertsteuer abgeschafft werden könnte. So sieht Sozialpolitik von oben aus.
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