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Aus dem Leben gerissen
Wissenschaftler und Studierende aus der Ukraine versuchen in Berlin den Neustart
Für Maksym Babak änderte der 24. Februar alles. »Um 4.30 Uhr morgens hat mich Lärm geweckt«, erzählt der 18-Jährige. »Erst dachte ich, dass es eine Feier sei, aber dann realisierte ich, dass es Schüsse waren.« Er wohnte zu diesem Zeitpunkt in Charkiw, bei seinen Eltern, und studierte an der örtlichen Universität einen Studiengang mit Schwerpunkt Internet-Sicherheit. »Ich hatte ein ganz normales Leben, am Wochenende habe ich Freunde zum Basketballspielen getroffen«, sagt er. Das änderte sich abrupt. Die Großstadt im Nordosten der Ukraine stand zu Beginn des Krieges im Zentrum der russischen Angriffspläne. Wenn es Bombenalarm gab, versteckten sich Babak und seine Eltern im Badezimmer, weil alle anderen Räume Fenster zur Straße hatten, die splittern hätten können. Einen Keller gab es in dem Altbau nicht. Lebensmittel wurden knapp, die Eltern mussten zu einem großen Supermarkt im Stadtzentrum fahren. »Ich hatte jedes Mal Angst, dass sie nicht zurückkommen«, sagt Babak.
»Unser Leben war stabil, fast ein bisschen monoton«, sagt auch Nataliia Zaiets. Vor dem Krieg arbeitete die 41-Jährige als Professorin für Robotik an der Universität Kiew. »Wir hatten gerade erst eine neue Wohnung gekauft«, berichtet sie. »Unsere Kinder gingen zum Fußballtraining, wir sind viel gereist.« Als sie am frühen Morgen des 24. Februar ein Freund anrief und berichtete, dass Bomben auf Kiew geworfen würden, fiel der Entschluss: Die Familie musste die Stadt verlassen. Noch am selben Tag wollten sie fliehen – doch auf allen Straßen, die aus Kiew hinausführten, herrschte undurchdringlicher Stau. Ein zweiter Versuch am Morgen des folgenden Tages gelang.
Babak und Zaiets kamen aus unterschiedlichen Städten in der Ukraine. Am Ende sind sie am selben Ziel angekommen: an der Technischen Universität Berlin. Babak studiert dort heute Informatik, Zaiets ist Gastprofessorin. Die Pressestelle der TU hat die Gespräche mit ihnen vermittelt. Berlins Universitäten und verschiedene Stiftungen bieten zahlreiche Unterstützungsmöglichkeiten an, um den ukrainischen Flüchtlingen das Ankommen an den Institutionen zu erleichtern. Wie viele Gastwissenschaftler und Studierende aus der Ukraine an den Berliner Unis forschen, ist nicht bekannt, doch allein an der TU profitierten Dutzende von diesen Programmen.
Babak verließ nach zwei Monaten Krieg Charkiw: »Ich habe Leichen und brennende Autos auf den Straßen gesehen, als wir aus der Stadt fuhren.« Weil er zu diesem Zeitpunkt noch minderjährig war und der Vater seine behinderte Schwester pflegte, durften sie das Land verlassen. Eigentlich war Männern die Ausreise verboten. Zunächst kam die Familie in Lauffen am Neckar unter. Babak wollte seine Ausbildung unbedingt fortsetzen, auch weil er nach dem Krieg beim Wiederaufbau seines Landes helfen will. Er bewarb sich bei verschiedenen Unis, aber ihm fehlte ein Sprachzertifikat. Die Prüfung konnte er nicht mehr ablegen, da der nächste Prüfungstermin erst nach Bewerbungsschluss lag. Die TU kam auf ihn zu: Er durfte einen individuellen Termin mit einer Sprachlehrerin ausmachen – und bestand. Auch einen Platz in einem Wohnheim in Tiergarten erhielt er auf den letzten Drücker. »Als die Zulassung kam, habe ich mich unheimlich erleichtert gefühlt«, sagt er.
Auch Zaiets wollte so schnell wie möglich nach ihrer Ankunft in Berlin wieder arbeiten. »Ich bin jemand, der nicht rumsitzen und nichts tun kann«, sagt sie. Sie wendete sich an die internationale Abteilung der TU, die ihr anbot, sich an einem Forschungsprojekt am Institut für Energie- und Automatisierungstechnik zu beteiligen. Dafür erhielt sie ein Forschungsstipendium. Parallel betreute sie über Videochat weiter Studierende und Doktoranden an ihrer alten Universität in Kiew. »Ich hätte nie gedacht, einmal dankbar für Corona zu sein, aber wegen der Pandemie waren wir alle schon vor dem Krieg Experten in der Online-Lehre«, sagt sie. »Manchmal gibt es Stromausfälle oder Bombenalarm in Kiew, dann müssen wir unterbrechen. Daran haben wir uns aber gewöhnt.«
Wenn Maksym Babak über sein Studium spricht, klingt er angesichts seiner Lage etwas befreit. »Es ist eigentlich alles ganz entspannt«, sagt er. Er habe Freunde gefunden, die ihm hülfen, wenn er Probleme mit der schwierigen Fachsprache habe. Von Vorteil für ihn: Schon vor seiner Flucht besuchte er Deutschkurse, weil er ein Auslandssemester in Deutschland plante. Ihn belastet dann auch ein ganz anderes Problem: Die Ausländerbehörde hat ihm noch keinen Aufenthaltstitel ausgesprochen. Ohne das Dokument darf er aber nicht arbeiten. Aktuell erhält er noch Bafög und Förderung aus einem Fonds des Studierendenwerks, doch auch hier muss er schnellstmöglich einen Aufenthaltstitel nachreichen. »Ich warte schon fast ein halbes Jahr darauf«, sagt er.
Der Familie von Nataliia Zaiets bereitet dagegen die Sprache weiter die größten Schwierigkeiten. »Wir Erwachsenen können uns ja häufig auf Englisch verständigen, aber die Kinder wissen sich häufig nur mit Gesten zu helfen«, berichtet sie. Die Familie nimmt an einem Integrations- und Sprachkurs statt. »Die Kinder haben natürlich große Sehnsucht nach ihren Großeltern und Freunden«, sagt sie. Nach dem Unterricht besuchen sie Online-Kurse ihrer ukrainischen Schule, um den Kontakt nicht zu verlieren.
Nataliia Zaiets und Maksym Babak wollen beide in die Ukraine zurückkehren, wenn die Sicherheitslage das erlaubt. Doch das könnte schwer werden: Mehr als 200 Schulen und Hochschulen wurden im Laufe des Krieges schon zerstört. »Meine Uni ist seit einem Bombenangriff nicht mehr begehbar«, sagt Babak. Dabei seien Bildung und Wissenschaft zentral für die Gesellschaft, betont Zaiets. »Wie soll die Gesundheitsversorgung oder das Justizsystem längerfristig funktionieren, wenn die Universitäten niemanden ausbilden können?«, fragt sie. Der Wiederaufbau nach dem Krieg werde ein gewaltiges Projekt werden. Babak schätzt, dass es fünf bis zehn Jahre dauern könnte, bis es in der Ukraine wieder einen regulären Universitätsbetrieb geben wird. Er sagt: »Wir hoffen natürlich, dass es dann auch Unterstützung von deutschen Unis geben wird.«
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