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Wo ist das Geld von Usain Bolt?
Der Sprintstar wurde in Jamaika um zwölf Millionen Dollar betrogen. Der Hintergrund des Skandals ist unklar, die Aufklärung unsicher
Die Entfernung zwischen den zwei größten Söhnen Jamaikas beträgt nur wenige 100 Meter. In der Hope Road in Kingston befindet sich umrahmt von Palmen das Anwesen, in dem der Reggae-Star Bob Marley viele seiner Platten aufnahm und in dem er auch ein Attentat überlebte. Ebenfalls in der Hope Road, ebenfalls von Palmen umsäumt, ist der Standort der Firma Stocks and Securities Limited (SSL). Dieser Investmentfirma hatte der frühere Weltmeister, Olympiasieger und Weltrekordhalter im Sprint Usain Bolt einen Teil seiner Einkünfte aus Siegprämien und Werbeverträgen anvertraut. Die Firma hatte die Gewinne auch vermehrt. Von 2012 an, als Bolt erste Aktien in dem von SSL gehaltenen Depot unter dem Namen WellJen ankaufte, vermehrte sich der Wert seiner Apple-Aktien um fast das Siebenfache, der seiner Amazon-Aktien um fast das 13-Fache. Als Bolt Anfang dieses Jahres aber auf sein Konto schaute, waren da nur noch etwas mehr als 12 000 US-Dollar zu finden, wie seine Anwälte mitteilten. Im Oktober 2022 betrug der Wert noch mehr als 12,7 Millionen US-Dollar. Bolt wurde, so stellte sich inzwischen heraus, Opfer des bislang größten Finanzbetrugs in der Geschichte Jamaikas.
Das sorgt für ziemliche Kontraste in der Straße mit dem schönen Namen Hoffnung. Während am einen Ende der Hope Road Rastafari-Anhänger aus aller Welt im gerade stattfindenden Reggae-Monat Februar das ehemalige Marley-Studio, das jetzt ein Museum ist, in Massen aufsuchen, sind am anderen Ende vor allem Journalisten und Polizisten zu finden. Polizisten, weil sie bei SSL Unterlagen beschlagnahmen und Journalisten, weil sie gern wissen wollen, was in diesen Unterlagen steht. In den Büros von SSL wird man freundlich empfangen. An der Wand befinden sich grafische Darstellungen, wie man sein Geld sicher bei SSL anlegen und vermehren kann. Zum Fall Bolt, wo das zuletzt offenbar nicht so ganz klappte, will man mir allerdings keine Auskunft erteilen. Auch ein Gespräch mit den Eignern der Firma, die diese ganz überraschend im Januar auflösen wollten, sei nicht möglich, sagt man mir – und weist mich freundlich auf einen an die Glastür geklebten Zettel hin. Laut dem hat die Finanzaufsicht die Kontrolle des Unternehmens übernommen. Anfragen seien dorthin zu richten.
Die Finanzaufsicht bestätigt immerhin die Höhe der Summe, die Bolt verloren ging. Letzte Woche musste in Kingston auch die Frau, die nach bisherigem Kenntnisstand die Schlüsselfigur im Betrugsfall ist, vor dem Obersten Gerichtshof Jamaikas in Kingston erscheinen. Jean-Ann P. ist eine frühere Kundenbetreuerin bei SSL. Sie soll insgesamt 40 Kunden geschädigt haben. Das teilte die Firma mittlerweile in einem siebenseitigen Statement mit. Der Gesamtschaden wird auf drei Milliarden Jamaikanische Dollar, das sind etwa 20 Millionen US-Dollar, geschätzt. Bolt ist demnach mit seinen 12,7 Millionen Dollar das Opfer mit dem größten Schaden. Und das prominenteste. In jamaikanischen Medien kursiert, dass auch mindestens ein Politiker und Stars aus dem Showbusiness darunter seien. Was sie alle außerdem vereint, nach Angaben von SSL jedenfalls, ist, dass sie nicht das Onlinesystem der Firma nutzten und daher keinen tagesaktuellen Einblick in ihre Konten hatten, sondern stets auf die Auskünfte der Kundenbetreuerin angewiesen waren. Das begünstigte deren Betrugsaktivitäten, argumentierte die Firma in dem Statement.
Aus Unterlagen, die jamaikanischen Medien durchgestochen wurden, geht hervor, dass die Mitarbeiterin allein zwischen August 2021 und Februar 2022 zehn Transaktionen tätigte, bei denen 191 Aktienpakete von Bolts Account zu einem anderen Konto bei SSL transferiert wurden. Auslöser waren jeweils E-Mails von Bolts Manager Norman Peart.
Peart allerdings bestritt, diese E-Mails jemals geschrieben zu haben. Er wurde von Bolt Ende 2022 gefeuert, was im Nachhinein Spekulationen befeuerte, er sei in den Betrug verwickelt. Weil es aber noch viele andere Opfer gibt, die Peart, ein alter Schulfreund von Bolt, nicht managte, ist eine Beteiligung von ihm auch sehr unwahrscheinlich. Zudem gingen die angeblich von ihm stammenden E-Mails zunächst an eine Privatadresse der Kundenbetreuerin, die sie von dort aus ins System einspeiste. So umging sie möglicherweise Sicherheitsfilter. Ein Polizeisprecher verkündete am Freitag im Rahmen einer Pressekonferenz schließlich, dass Peart mit den Ermittlern zusammenarbeite und nicht gegen ihn ermittelt werde.
Von der Hope Road zum Usain Bolt-Track am Rande des Geländes der University of the West Indies ist es eine Viertelstunde mit dem Auto. Hier leuchtet schon von weitem eine blaue Tartanbahn. Auf dem Gelände trainierte einst Bolt. Sein damaliger Trainer Glen Mills betreut hier weiter eine Trainingsgruppe. Der WM-Vierte über 100 Meter im letzten Jahr, Oblique Seville, gehört dazu. Mills traut ihm zu, einst noch schneller als Bolt zu laufen. »Er hat die Kapazitäten dafür, in einem perfekten Lauf schneller als Bolt zu sein«, bestätigt Mills. Zu dem Geldverlust seines früheren Schützlings will er sich nicht äußern. Die Trainingsbahn, die er nutzt, sieht jedenfalls nicht nach viel Geld aus. Struppiger Rasen wächst links und rechts der Bahnen, ein einfaches Gittertor, wie es sonst die Einfahrt zu Farmen versperrt, trennt das Gelände vom nahen Uni-Areal ab. Lediglich an den dunklen Limousinen, mit denen manche Mitglieder der Trainingsgruppe anrollen, kann man größeren Wohlstand ablesen. Ansonsten aber überrascht die Nüchternheit des Ambientes, in dem Jamaikas Weltmeister und Olympiasieger gemacht werden.
Für die Athleten hier bedeutet die Affäre ihres Vorbilds Bolt vor allem, dass die erlaufenen Gelder in der Heimat nicht sicher sind. Dass Bolt seine Gewinne eben nicht in die USA gebracht hat, dass er weiterhin in Jamaika lebt und dort auch in Wohn- und Tourismusprojekte investiert, rechnen ihm viele hier hoch an. Die Betrugsaffäre aber zeigt, dass selbst das Geld von Jamaikas bislang schnellstem und – nach Bob Marley – zweitberühmtestem Sohn vor Betrug nicht gefeit ist. Der Imageschaden für Jamaika ist damit größer als der Verlust für Bolt.
Dieser Umstand rief auch Jamaikas Finanzminister Nigel Clarke auf den Plan. Er verkündete vollmundig: »Ich versichere allen Bürgern Jamaikas, dass die ermittelnden Institutionen operative Unabhängigkeit haben, jeder Spur zu folgen, wo immer sie hinführt. Es wird volle Transparenz geben. Jeder Stein wird umgedreht, um herauszufinden, wie die Investitionen gestohlen wurden, wer davon profitierte und wer es organisierte und sich daran beteiligte.«
Doch die Zweifel an dem Versprechen einer solchen kompletten Aufklärung sind groß. Denn Hinweise über Unregelmäßigkeiten bei der Firma SSL gab es bereits im Jahr 2017. Damals schon setzte die Finanzaufsicht eine Kontrollperson ein. Die Betrugsmanöver erkannte sie aber offenbar nicht. Auch interne Kontrollmechanismen wurden missachtet. Die Transaktionen von Bolts Konto im Zeitraum August 2021 bis Februar 2022 wurden nicht von einer zweiten Person gegengezeichnet, wie es eigentlich Vorschrift ist. Unklar ist auch, wer letztlich von dem Betrug profitierte, bei wem Aktien und Geld landeten. Dass eine einzelne Kundenbetreuerin über Jahre unbemerkt von allen anderen 40 Klienten schädigen konnte, ist extrem unwahrscheinlich. Spuren der Betrügereien gehen bis ins Jahr 2012 zurück.
Das berühmteste Opfer beruhigte mittlerweile seine Fans. Nein, er werde Jamaika nicht den Rücken kehren, versicherte Bolt. »Ich bin auch nicht bankrott«, sagte er bei einem seiner wenigen öffentlichen Auftritte nach Bekanntwerden des Skandals mit einem Anflug von Lachen. »Aber es bedeutet schon einen Dämpfer. Das Geld war für die Zukunft gedacht. Jeder weiß, ich habe drei Kinder und ich kümmere mich weiter um meine Eltern. Und ich will auch gut leben«, erklärte er. Seinen nächsten großen Auftritt hat er diesen Samstag bei den traditionellen Gibson McCook-Relays. Bei dem Leichtathletikmeeting, das mit den 4 x 400-Meter-Staffelläufen von Jamaikas High Schools gekrönt wird, trat er selbst noch 2017 an. Jetzt ist er Schirmherr der Veranstaltung – und endlich wieder vom Sport umgeben, von schnellen Beinen, Adrenalin und Endorphinen. Der Ärger ums verlorene Geld tritt da in den Hintergrund.
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