- Politik
- Algerien
»Der letzte Zeuge der Repression«
Said Salhi über die Auflösung der größten Menschenrechtsorganisation LADDH in Algerien
Herr Salhi, im Februar 2019 gingen landesweit Hunderttausende Algerierinnen und Algerier auf die Straßen, um gegen Langzeitherrscher Abdelaziz Bouteflika zu demonstrieren und für politischen Wandel. Wie steht es heute, vier Jahre nach der Revolution, um die Menschenrechte?
In Algerien ist vor wenigen Wochen der Chefredakteur einer unabhängigen Medienanstalt verhaftet worden. Hunderte Aktivistinnen und Aktivisten sitzen in Haft. Die algerische Menschenrechtsliga LADDH wurde aufgelöst. Deren Vizepräsident, Said Salhi, spricht im Interview mit »nd« über Menschenrechte in Algerien vier Jahre nach der Revolutionsbewegung »Hirak«.
Leider sehr schlecht. Wir beobachten ein Kräftemessen zwischen der pro-demokratischen Revolutionsbewegung Hirak, die auch seit dem Amtsantritt von Präsident Abdelmadjid Tebboune im Jahr 2019 weiterhin friedlich Widerstand leistete, und einem Regime, dessen Ziel es ist, den Hirak endgültig loszuwerden. Die Repressionen nehmen zu. Das Regime des »neuen Algerien« hat sich als schlimmer erwiesen als das Bouteflika-Regime, das wir bekämpft haben. Während der 20-jährigen Herrschaft von Bouteflika wurde keine einzige Vereinigung oder politische Partei aufgelöst. Und jetzt? Nach der Schließung des letzten Medienraums mit freier Meinungsäußerung, Radio Maghreb und Maghreb Émergent, und der Inhaftierung seines Chefredakteurs, des Journalisten Ihsan El-Kadi, beschloss die Staatsmacht, sich aller Zeugen zu entledigen.
Wen meinen Sie?
Die algerische Menschenrechtsliga LADDH. Sie ist mit ihren 38 Jahren Existenz der letzte Zeuge der Repression. Durch seine Erklärungen und seine Aufdeckungsarbeit störte dieser Zeuge vor allem auf internationaler Ebene, auf der die Staatsmacht das Bild eines neuen Algeriens verkaufen und die Repression verbergen will. Erst vor wenigen Wochen haben wir erfahren, dass unsere Organisation schon im Juni 2022 aufgelöst worden war, wir aber nicht darüber informiert wurden. Auch das entsprechende Urteil wurde uns nie zugestellt.
Was bedeutet die Auflösung der LADDH für Algerien?
Menschenrechtsverteidiger sind von nun an unerwünscht. Was unserer Organisation vorgeworfen wird, ist ihre Arbeit: Die Tatsache, dass sie innerhalb des Landes und auf internationaler Ebene die Verschlechterung der Menschenrechte in Algerien sichtbar machte. Die Tatsache, dass sie die Stimme derjenigen ist, die mundtot gemacht werden. Mit der Auflösung der LADDH wird deutlich: Algerien verstößt gegen seine internationalen Menschenrechtsverpflichtungen. Das Regime hat entschieden, sich auf die Seite der Unrechtsstaaten zu stellen. Algerien fällt im weltweiten Ranking weiter ab und reiht sich ein in die Riege der Diktaturen und Staaten, die die Menschenrechte missachten. Es ist eine Schande für die Regierung.
Gibt es noch unabhängige Menschenrechtsorganisationen in Algerien?
Leider nein. Die Machthaber haben eine völlig untergeordnete Beobachtungsstelle für die Zivilgesellschaft eingerichtet, aber die hat de facto den Auftrag, das Image des Regimes zu fördern. Die LADDH war die älteste und wichtigste Menschenrechtsorganisation in Algerien, die einzige wirklich autonome Organisation, der letzte Raum für die Dokumentation und Überwachung der Menschenrechte. Ihre Auflösung ist eine schlechte Nachricht für alle Organisationen der Zivilgesellschaft. In Algerien leisten Aktivistinnen und Verteidiger noch immer mutig Widerstand, zum Preis willkürlicher Inhaftierungen und aller Arten von Schikanen.
Wie steht es denn um die Unabhängigkeit der algerischen Justiz?
Ich habe selbst jahrelang bei der LADDH an Projekten zur Reform des Justiz- und Strafvollzugwesens gearbeitet, um die Kooperationen des algerischen Justizministeriums mit der Europäischen Union und dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen zu unterstützen. Diese Programme laufen seit 2006 und zielen ab auf die Reform und Modernisierung des Justizwesens hin zu einer gerechten und unabhängigen Justiz. Es ist schmerzhaft, nun festzustellen, dass die Justiz trotz aller Bemühungen, Richter und Staatsanwälte zu stärken, weiterhin nicht unabhängig ist. Das Justizwesen ist immer noch der Exekutive und der tatsächlichen Macht im Land – der Armee – unterworfen. Mein Land rutscht von Tag zu Tag tiefer in eine Diktatur ab und ein Frühling ist nicht in Sicht. Das Regime bereitet schon seine Nachfolge im Jahr 2024 vor.
Sie leben seit Sommer 2022 im Exil in Belgien. Wie geht es Ihnen damit?
Das Exil ist nie eine freie Wahl. Man entscheidet sich nicht aus einer Laune heraus, mit den Seinen zu brechen und das Land, für das man gekämpft hat, hinter sich zu lassen. Ins Exil zu gehen mit der Gewissheit, nicht nach Hause zurückkehren zu können, ist für mich der schwierigste Moment meines Lebens gewesen. Heute verfolge ich aus der Ferne, wie die Organisation, in der ich mich 18 Jahre lang engagiert habe, zerstört wird. Am schlimmsten ist es für mich, zuzusehen, wie das Menschenrechtszentrum in Bejaia, das ich selbst eröffnet habe, nun geschlossen und versiegelt ist, dass Organisationen und Hunderte von jungen Menschen dieses Raums der Bildung, der freien Debatte und der Begegnung beraubt werden, dass ein ganzes Werk vor meinen Augen zusammenbricht.
Viele Demokratie-Aktivisten, Anwältinnen und Journalisten verlassen derzeit das Land …
… ja, diejenigen, die es noch schaffen. Einige unserer Aktivisten wurden vorgeladen, ihnen wurde mitgeteilt, dass sie das Land nicht verlassen dürfen, ihre Pässe wurden eingezogen.
Die LADDH hat sich aktiv an der Protestbewegung Hirak beteiligt mit der Hoffnung auf einen Systemwechsel. Die Proteste jähren sich nun zum vierten Mal. Was ist von der Revolution geblieben?
Die friedliche, pro-demokratische Protestbewegung Hirak bleibt unbestreitbar ein Wendepunkt in der Geschichte des Landes. Sie ist eine historische Chance für einen demokratischen Wandel, auch wenn dieser aus verschiedenen Gründen bislang verpasst wurde. Dennoch hat der Hirak das algerische Volk befreit, vor allem die Jugend. Es gibt eine ganze Generation von jungen Aktivisten, die heute der Unterdrückungsmaschinerie des Regimes gegenüberstehen. Die Machthaber glauben, dass sie das Volk mit Gewalt und Zwang unterworfen haben, aber sie irren sich. Am 22. Februar haben wir trotz allem den vierten Jahrestag des Hirak gefeiert, wenn auch nicht protestierend auf den Straßen, weil die Bewegung nicht auf Kollisionskurs mit der Armee aus ist. Die Menschen wollen keine Wiederholung des Bürgerkriegs der 90er Jahre. Aber sie werden ihren friedlichen Widerstand fortsetzen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.