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  • Kolumne Sonntagmorgen

Eine Frage der Qualität

Wo ist die Bibliothek von Alexandria? Vielleicht in einem Berliner Keller.

  • Robert Rescue
  • Lesedauer: 3 Min.
95 Euro fürs Entrümpeln und vielleicht ein Schatz obendrauf?
95 Euro fürs Entrümpeln und vielleicht ein Schatz obendrauf?

Seit Tagen sind bei uns im Mietshaus die Entrümpler zugange. Was sie aus den Kellern zutage fördern, spricht Bände. Kellerräume sind ja dazu prädestiniert, dort was unterzustellen, was man nicht mehr braucht, und manche Mieter sind in dem Punkt zügellos. Es findet sich zum Beispiel eine Preistafel, die mal in einem Dönerladen über dem Tresen gehangen haben muss. Ich wohne seit 18 Jahren hier und was ich in dieser Zeit definitiv nicht gesehen habe, ist ein Dönerladen. Auch interessant ist ein alter Wohnzimmerschrank-Fernseher – wohlgemerkt nur der Fernseher und nicht die ganze Schrankwand.

An drei Tagen sehe ich den Chef im Hof stehen, wie er seine migrantischen Arbeiter beaufsichtigt. Er macht Fotos und telefoniert, und wenn ich richtig mitgehört habe, bietet er manchen kostbaren Fund gleich irgendwelchen Geschäftspartnern an. Wenn er mich wahrnimmt, hebt er grüßend die Hand. Ich mache ein unbeteiligtes Gesicht und denke darüber nach, wie viele Mieter im Laufe des Tages hier vorbeikommen und sich ertappt fühlen, weil die Entrümpler gerade das wegräumen, was diese Nachbarn im Laufe der Jahre runtergebracht haben.

Über was anderes muss ich nachdenken. Kann er eine Antiquität von einem Allerweltsschrank unterscheiden? Ich habe eine Idee, ich will ihn auf das verschollene Bernsteinzimmer ansprechen. Während ich auf ihn zutrete, überlege ich, ob ich diesen Schritt gehen will. Was ist, wenn er mich verdutzt anschaut und mit einem »Hä?« antwortet? Ich wäre enttäuscht und würde ihn keines Blickes mehr würdigen. Was aber, wenn er sagt: »Ja, das ist ein großer Traum von mir, das zu finden. Seit 40 Jahren räume ich Keller leer und hoffe jeden Tag, dass meine Leute auf 28 Holzkisten stoßen, auf denen ein Hakenkreuz zu sehen ist und ich sicher sein kann, das Bernsteinzimmer gefunden zu haben. Ich bin nicht der Einzige, der diesen Traum hat. Zahlreiche Museen und Kunstsammler warten auf meinen Anruf. Aber 28 vollständig erhaltene Kisten in einem Mietshaus im Wedding? Wenn meine Leute alte Kloschüsseln, Bobby-Cars mit fehlenden Reifen oder eine Kiste mit Musikkassetten aus dem Keller fischen, weiß ich bereits, dass ich nicht fündig werde. Bei Aufträgen in Zehlendorf oder Dahlem bin ich zuversichtlicher, aber da habe ich bislang nur den Inka-Schatz von Paititi und die Bundeslade gefunden. Sie werden sicherlich denken, das ist doch schon mal eine gute Ausbeute, aber wer nicht an das Bernsteinzimmer oder die Bibliothek von Alexandria denkt, der ist in dieser Branche falsch. Immerhin scheinen sie meinem Gewerbe etwas Aufmerksamkeit entgegenzubringen, vielen Dank!«

Aber die Sorge überwiegt, dass er mich nicht versteht, deswegen ziehe ich schweigend an ihm vorbei und überlasse ihn seiner stupiden Arbeit, in einer Kiste zu wühlen und gleichzeitig mit jemandem zu telefonieren und diesem, wie auf einem Basar, ein altes, vermutlich nach verwester Ratte riechendes Plüschtier als 100 Jahre alten Original-Steiff-Teddybär verkaufen zu wollen. Wobei, kann er einen Steiff-Bären überhaupt erkennen? Ich sollte ihn das morgen mal fragen.

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