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Ukraine-Geflüchtete statt Senioren? AfD hetzt in Wedding
Dass Senior*innen wegen Streitigkeiten über den Pachtzins ausziehen müssen, wird für Rechtsaußen zum gefundenen Fressen
»Die AfD ist die einzige Partei, die sich für diese Leute stark macht und das müssen wir immer wieder deutlich machen«, brüllt Martin Kohler, Vorsitzender der »Jungen Alternative Berlin«, den knapp 20 Teilnehmer*innen der Kundgebung durch das Mikrofon zu. Als mutige Kämpferin für die Rechte der aus ihrem Pflegeheim verdrängten Senior*innen wollte sich die Berliner AfD am Samstag im Wedding inszenieren.
Denn in der Müllerstraße müssen Senior*innen aus einem Pflegeheim ausziehen. Geflüchtete wiederum ziehen in die Räume ein. Schon vor der AfD-Kundgebung am Samstag sorgte der Fall für Schlagzeilen. Selbst ein Schweizer Boulevard tönte: »Berlin schmeißt Senioren raus und baut Flüchtlingsheim.« Dass der Fall komplexer ist, als er nun populistisch dargestellt wird, geht dabei unter.
Das Pflegeheim in der Müllerstraße wird von der Johannesstift-Diakonie betrieben. Die Diakonie hat das Haus auf dem Grundstück des ebenfalls evangelischen Paul-Gerhardt-Stifts seit 2006 mittels eines Pachtvertrags gemietet. Es entstand dort die Einrichtung »Pflege & Wohnen im Schillerpark«. Ursprünglich galt der Pachtvertrag noch bis ins Jahr 2031 mit einer Option auf Verlängerung.
Doch seit 2021 kam es zwischen Pächter und Verpächter zum Streit über den Pachtzins. Am Ende habe man eine Befristung für das Pflegeheim bis Mitte 2025 vereinbart, heißt es von der Diakonie. Weil die Diakonie aber keine alternative Immobilie gefunden habe, seien bereits seit vergangenem Jahr frei werdende Plätze nicht mehr besetzt worden. Den Bewohner*innen der oberen Etagen sei zum Ende des vergangenen Jahres gekündigt worden, die Bewohner*innen der unteren Etagen sollen spätestens Ende 2023 ausziehen. Bei der Suche nach neuen Pflegeplätzen leiste man Unterstützung, ein Teil der Bewohner habe zudem das Angebot angenommen, in eine andere Pflegeeinrichtung der Johannesstift-Diakonie umzuziehen. Den Mitarbeitenden wiederum seien Arbeitsplätze in anderen Einrichtungen der Johannesstift-Diakonie angeboten worden.
Der Darstellung, dass Senior*innen zugunsten Geflüchteter ausziehen müssten, widerspricht der Verpächter, das Paul-Gerhardt-Stift. Erst nachdem klar gewesen sei, dass der Mietvertrag beendet werde, habe man sich mit der Nachnutzung beschäftigt. Seit Februar wohnen über 120 Geflüchtete in den oberen Etagen. Auch Darstellungen, nach denen es sich um eine wirtschaftliche Entscheidung gehandelt habe, weist das Paul-Gerhardt-Stift zurück. »Als diakonisches Unternehmen arbeiten wir ohne Gewinnerzielungsabsicht unter den Regeln der Gemeinnützigkeit.« Es verweist auf den Bedarf an Unterkünften und die langjährige Erfahrung des Stifts in der Geflüchtetenarbeit. Schon vor den Geflüchteten, die in die Räume der Pflegeeinrichtung ziehen, lebten auf dem gesamten Gelände des Stifts bereits Geflüchtete.
Auch Ursula Schoen, Direktorin der Diakonie Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, erklärt, dass die bereits seit Jahren bestehende Unterkunft für besonders schutzbedürftige Geflüchtete in räumlicher Nähe des Aufnahmezentrums in Reinickendorf nun erweitert werde. Geflüchtetenarbeit sei aber »alles andere als eine Goldgrube«. Das Gegenteil wäre der Fall: Man müsse sich immer wieder für eine auskömmliche Finanzierung einsetzen, es entständen zudem hohe Kosten, die häufig durch die Trägereinrichtungen aufgebracht werden müssten. Eine »einfache Aufrechnung«, wie sie in der Berichterstattung unternommen werde, werde der Situation nicht gerecht werden.
»Das reißerische Aufwiegen von Seniorinnen und Senioren gegen Geflüchtete ist jetzt nicht zielführend«, so Diakonie-Direktorin Schoen. Es sei eine »starke Belastung« für die Bewohnenden und verletze zudem auch die Mitarbeitenden der diakonischen Einrichtungen. »In diesen Tagen gilt es, den sozialen Zusammenhalt zu befördern – nicht zu spalten.«
Die Kundgebung der AfD am Samstag, an der auch die Bundestagspolitikerin Beatrix von Storch und Ronald Gläser von der AfD-Fraktion im Abgeordnetenhaus teilnahmen, blieb nicht unwidersprochen. Während die zwei Dutzend AfD-Mitglieder hauptsächlich Bildmaterial für ihre Internet-Kanäle erstellten, protestierten rund 70 Menschen in Sicht- und Hörweite lautstark gegen die Kundgebung. »Wir haben deutlich gemacht, dass Senior*innen und Geflüchtete hier nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Weder die einen noch die anderen haben sich die Situation so ausgesucht«, sagt Marco Stern von der »Antifa Nordost« nach der Kundgebung zu »nd«.
Auch der Bezirksverband Mitte der Linken war vor Ort. Niklas Graßmann von der Basisorganisation Wedding zeigte sich zufrieden. »Wir haben uns sehr gefreut, dass so schnell so viele Antifaschist*innen gezeigt haben, dass die AfD im Wedding nichts zu suchen hat, nicht verankert ist und wir es nicht akzeptieren, dass hier soziale Gruppen gegeneinander ausgespielt werden.«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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