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Voodoo Jürgens: Lob der Mundart
Plattenbau. Die CD der Woche: »Wie die Nocht noch jung wor« von Voodoo Jürgens
»Bitte die Tiere nicht angreifen«, stand auf dem Schild im Zoo, den ich als Kind während eines Urlaubs am Wörthersee besuchte. Das fand ich nicht nur komisch, sondern im emphatischen Sinne schön. Menschen aus Deutschland begegnen der österreichischen Varietät der geteilten Sprache oft mit paternalistischer Belustigung – das Wort »charmant« darf beim Reden darüber nicht fehlen. Dabei verdient das Österreichische vielmehr Bewunderung, bietet es doch regelmäßig Anlass sich zu wundern, zum Beispiel über das Verhältnis zwischen intendierter Zärtlichkeit und einer unerwünschten Grenzverletzung. Gerade für Leute aus dem übergriffigen Nachbarland Österreichs eine wichtige Frage.
Voodoo Jürgens also singt in diesem wunderschönen Idiom. Nun ist das Österreichische in Deutschland charmebehaftet, und die Mundart im Allgemeinen unter sich kosmopolitisch denkenden Menschen schambehaftet – dabei ist nichts provinzieller als die Verachtung der Provinz, die man in völliger Unkenntnis ablehnt und abwertet wie nur irgendein Hinterwäldler die Metropole. Es ist schon seltsam: obwohl Musiker*innen sehr gerne mit den unterschiedlichsten Effektgeräten experimentieren und Johnny Cash verehren, verbleibt der Gesang meist in fadem Tagesschaudeutsch. Das führt zu der schrecklichen Mischung aus Innerlichkeit und Sterilität, die deutschen Pop kennzeichnet. Die klügeren Künstler*innen wissen, dass man über Sex nur auf Englisch singen kann, aber warum versuchen sie es nicht im Dialekt? Denn Jürgens‘ Wienerisch (die deutsche Entsprechung des von Cash besungenen und verwendeten southern accent) hat einen schönen, süffigen Klang und bietet auch, siehe oben, reichlich Erkenntnisse.
Die Mundart dient hier nicht der Heimattümelei, sondern, sprachliche Normen brechend, als Verfremdungseffekt. Wenn Voodoo Jürgens über die Liebe singt, erfindet er Pfeil und Bogen zwar nicht neu, aber durch den sprachlichen Filter fühlt man sich davon nicht unangenehm angefasst, sondern durchaus berührt. Wienerisch ist nämlich nicht nur ein Klang, sondern ein Gefühl: eine lebenskluge Unaufgeregtheit, aber keine Resignation. Mit dieser Einstellung singt er über die psychische Abstumpfung durch Lohnarbeit und die psychische Abstumpfung durch Erwerbslosigkeit, über teure Mieten und die Marketingmasche Sonderangebot, über Liebe und Prostitution. Fern von Affirmation, aber auch ohne das wohlfeile Pathos des Protestes.
Von einer gewissen Lethargie ist auch die Musik, selbst bei beschwingten Liedern. Das in den Texten unterschwellig mitschwingende memento mori findet hier seine musikalische Entsprechung, und auch wer das Tanzbein schwingen will, muss gegen die Schwerkraft und das Trägheitsmoment ankämpfen. Das sehr reduzierte Schlagzeug gibt einen schleppenden, synkopierten Rhythmus vor, der Bass liefert eine erdige Grundierung für die warmen Harmonien von Harmonium, Orgel und Trompete. Ein ganz und gar unzeitgemäßer Klang, der aber auf keine bestimmte Zeit verweist; ganz bestimmt nicht auf die guade oide. Jürgens beschwört statt der Disko eher den Zirkus und das Varieté herauf. Manchmal deutet sich der Balkan klanglich an, aber ohne Rückgriff auf Klischees. Sehr eindrucksvoll steht hierfür das ausufernde instrumentelle Schlussstück »Odessa«.
Diese Musik ächzt und quietscht und knarzt manchmal, und mit ihren eingängigen Dissonanzen, mit ihren Gossenglamourtexten und ihrer Kombination aus Jazz und der europäisch-proletarischen Musiktradition erinnern diese Songs an jene von Brecht und Weill. Die Lenya kam ja eh aus Wien.
Leiwand von dir, wannst die Scheibn checkn dadst.
Voodoo Jürgens: »Wie die Nocht noch jung wor« (Lotterlabel)
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