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  • Andrea Breth am Berliner Ensemble

Traumschutt

»Ich hab die Nacht geträumet« von Andrea Breth am Berliner Ensemble

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Theater als antinaturalistische Anstalt: »Ich hab die Nacht geträumet« von Andrea Breth
Theater als antinaturalistische Anstalt: »Ich hab die Nacht geträumet« von Andrea Breth

Die Nacht ist ein Raum, gemacht aus wechselnden Facetten der Dunkelheit. Umrahmt von Dämmerung, birgt sie Reste vom Abendlicht, aber dann kommt schon der Morgen. Doch was ist in der Mitte der Nacht? Da herrscht das Schwarz, sieht man die Hand vor Augen nicht. Eine klaustrophobische Situation, schlaffressende Angstmaschine. Rettende Fluchtwege? Nach innen schauen, denn dort findet nun ein Traumspiel statt, das uns zeigt, dass die sichtbare Welt immer nur die halbe Welt ist.

So ist es auch hier am Berliner Ensemble im Zuschauerraum bei Andrea Breths »Ich hab die Nacht geträumet – Ein Schauspiel mit Musik«, einer von ihr selbst verfassten Collage, die hier zur Uraufführung kommt. Vorn im Bühnenbild von Raimund Orfeo Voigt scheint alles in Grau getaucht. Immerhin, es scheint jenes »frische Steingrau« zu sein, von dem in Loriots »Ödipussi« die Rede ist. Gut gegen Versuchungen, Selbstmord zu begehen? Dieser Abend, gefertigt aus 50 Textbausteinen verschiedenster Art (mal mit, mal ohne Live-Musik unter der inspirierten Leitung von Adam Benzwi), hat etwas von einem Todestraum: ein gefilmter Lebensrückblick im Zeitraffer, bei dem ständig die Perspektive wechselt.

Träume entziehen sich jedem rationalen Zweck. Träume sind keine Waffen. Das unterscheidet den traumlos-handelnden Tagmenschen von seiner Nachtseite, die ihm selbst ein Rätsel ist. Denn die Nacht hat ihre ganz eigenen Regeln, die tief aus dem Unbewussten heraufsteigen. Andrea Breth, in den 90er Jahren die prägende Regisseurin der Berliner Schaubühne, komponiert nicht bloß ein halbes Hundert surrealer Spielszenen, sondern sie versucht mittels dieser auch etwas über die Natur der Nacht und des aus ihr aufsteigenden Traums zu erfahren.

Fernando Pessoa gehört zu den Autoren, die hier ihren fünfminütigen Traumauftritt haben. Sein »Buch der Unruhe« gehört zu jenen Büchern, in denen ich regelmäßig lese. Ein Buch ohne Anfang und Ende, ohne roten oder seidenen Faden, ohne durchschaubare Absichten. Eine imaginäre Gegenwelt aus Fragmenten wie diesem: »Wir alle sind kurzsichtig, ausgenommen nach innen. Nur unsere Traumaugen brauchen keine Brille.«

Traumaugen sind zweifellos unpraktisch. Davon zeugt hier der Umstand, dass ich viel von dem mitschreibe, was in den schnell wechselnden Szenen gesagt wird. Als das Licht nach insgesamt mehr als drei Stunden angeht, sehe ich zumeist unentzifferbare Zeichen die Blätter bedecken, teils übereinander geschrieben, mir selbst völlig rätselhaft. Im Dunkel kann man eben nicht schreiben, der Sog der Dunkelheit treibt jeden Versuch, logisch strukturiert zu denken, ins Absurde.

So gehen auch hier die Szenen ineinander über, verwischen an den Rändern. Der Interruptus des Sinnvollzugs treibt eine skurrile Blüte nach der anderen. Hauptsache, alles fließt und schillert rund ums Geheimnis, das man sich träumend selbst ist. Die Traumlogik bleibt, wie hier schlagend bewiesen wird, unaufklärbar irrational. Wortfetzen und Bilder jagen einander in atemloser Hektik, ohne sich je einzuholen. Hauptsache, der Rhythmus stimmt. Solange bis jemand auf die Assoziationsbremse tritt, man bloß noch schwarz sieht und schweigend verharrt.

Dieser Abend ist schwer zu beschreiben, nicht nur wegen fehlender Notizen, sondern seines Themas wegen: Der Traum streitet mit dem Trauma, das sich nicht einfach besiegen lässt. Hans-Dieter Schütt hat die Regisseurin während ihrer Inszenierungsarbeit am selbstverfassten Stück, dieser Traumcollage, begleitet und notiert: »Traumzeit ist die Zeit, da nehmen wohl selbst die Uhren ihre Behauptung zurück, sie tickten richtig.«

Es geht um jene romantische Projektion, die uns als fantastische Wesen anspricht, die wir jedoch nur zu sein vermögen, wenn die Tagesvernunft schweigt. Im Grunde ist diese fortwährend um ein unsichtbares magisches Zentrum kreisende Flut von Bildern und Tönen eine Variation auf einen Satz aus den »Nachtwachen des Bonaventura«, vielleicht dem heimlichen Hauptwerk der deutschen Romantik, dessen Verfasser bezeichnenderweise unbekannt blieb. Da wird eine Haltung des Ohne-mich postuliert, die bis heute programmatisch gegen jede rationale Verwertungslogik antritt: »Die Menschen sind wenn sie handeln höchst alltäglich und man mag ihnen höchstens wenn sie träumen einiges Interesse abgewinnen.«

Das ist das Zentrum dieser Variation aus Schwarz und Grau. Sie bildet enge Kammern. Sieben Türen, die meist verschlossen sind, führen von einem engen Korridor aus ins Unbekannte. Manchmal öffnen sie sich, dann erscheinen puppenhafte Figuren, immer gediegen gekleidet (Kostüme: Jens Kilian), oft in Gruppen zusammengedrängt: eine nächtliche Angstgemeinde. Eine Wand öffnet sich, ein weiterer Raum, aber keine Weite, sondern die nächste graue Kammer. Der absurde Traum scheint gefährlich und bekommt eine Einzelzelle.

Das ist kein Blick ins Theatermuseum vergangener Zeiten, wie der Kollege von »Nachkritik« meint, sondern der wagemutige Versuch einer Formsprache, die die einströmenden altbekannten Sinnpartikel, die des Nachts frei herumvagabundieren, wieder in einen Erzählfluss zu bringen versucht. Das gelingt hier mittels forcierter Künstlichkeit. Jede Bewegung, jede Geste scheint bis in Puppenhafte verfremdet – und gewinnt so einen überraschend neuen Ausdruck. Das betrifft nicht allein die »Klassiker« der Romantik, wie Brahms’ »Ich hab die Nacht geträumet«, das sich klirrender Weltfremdheit aussetzt, sondern auch Theodor W. Adornos »Traumprotokolle«.

Man greift im Ton hoch, aber gleitet dann durchaus wieder unbeweglich wie die Karikatur eines Denkmals auf rollenden Brettern quer über die Bühne. Bis in die schlagerhafte Breite führt diese nächtliche Expedition aus Bildern und Tönen – etwa zu Friedrich Hollaenders »Sexappeal« oder »Küss mich, bis die Welt vergeht« nach Leonard Cohen. Und plötzlich öffnet sich ein Abgrund: »Tat twam asi!« – »Das bist auch du!« Wir werden träumend Teil jenes Sogs in die Tiefe, der nicht Tiefsinn, sondern Auflösung bis in Staub verheißt.

Großartige Schauspieler sehen wir, allen voran Corinna Kirchhoff, die jene distanzierte Kühle noch dann beibehält, wenn sie herzinnigst den Schlager singt: »Mama, bitte sag mir!« Wohltuend, wie hier Theater als antinaturalistische Anstalt begriffen wird und dabei keineswegs zur Imitation eines Herbert Fritsch oder Christoph Marthaler gerät. Hier wird die paradoxe Würde des Traumschutts mit ganz eigenen Mitteln verteidigt. Lauter seelensuchende Gespenster, die vor dem Nichts stehen. Johanna Wokalek zeigt dabei ihr tragikomisches Talent, ebenso wie Peter Luppa, Martin Rentzsch und Alexander Simon.

Ein höchst lebendiger Totentanz also, wie etwa in der (so tatsächlich geschehenen) »Abschiedsansage einer Air Berlin Purserette vor dem allerletzten take off«. Nein, das Flugzeug stürzt nicht ab, die Fluglinie stellt bloß ihren Betrieb ein und die Chefstewardess geht nicht schweigend zur Tagesordnung über. Vielleicht beginnt mit »Ich hab die Nacht geträumet« ja ein altersweiser Höhenflug der Regisseurin Andrea Breth, die uns hier eindrucksvoll vor Augen führt, dass sich im Traumwerk Reales und Irreales auf unwahrscheinlichste Art und Weise verbinden, ebenso schrecklich wie schön.

Nächste Vorstellungen: 28., 29.3. und 25.4.
www.berliner-ensemble.de

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