- Kultur
- »Neues vom Dauerzustand«
Deichkind: Resonanz, Resonanz!
»Neues vom Dauerzustand«: Leben und Lernen mit Deichkind
Bei Deichkind weiß man nie so recht, ob das jetzt ernst gemeint ist oder nicht: Typen, die sich eine Pyramide auf den Kopf setzen und zu irgendwelchen Elektrogeräuschen kryptische Texte sprechen. Ist das jetzt Satire? Oder komische Leute, die denken, dass sie Kunst machen? Ehrlich gesagt weiß ich das bis heute nicht. Meine musikalische Sozialisation mit Falco in den Achtzigerjahren hat mich auf so etwas nicht vorbereitet. Ihren ersten Hit »Bon Voyage«, erschienen 2000, habe ich ignoriert. So etwas, dachte ich, setzt sich auf Dauer nicht durch. Keine Melodie, keine selbst gespielten Instrumente, nur Gummi.
Um Deichkind zu verstehen, musste ich einen Umweg nehmen. Ich habe Kinder, die Gangsta-Rap verachten. Zum Glück. Aber was sie pausenlos hören, ist die Gruppe Deine Freunde. Eine Band für Kinder um den Drummer der um die 2000er herum sehr gehypten Band Echt, die den großartigen Hit »Du trägst keine Liebe in dir« hatten und dann verpufften. Die Idee von Deine Freunde ist, die Streetcredibility von Hip-Hop ins Kinderzimmer zu übertragen. Kinderzimmercredibility. In deren Tracks geht es um »Schokolade«, »Pyjamaparty« oder meinen Lieblingstrack »Du bist aber groß geworden«.
Die Alben von Deine Freunde haben eine hohe musikalische Qualität. Das ist kein Kinderplingpling à la Detlev Jöcker oder ähnlichem Quatsch, mit dem Kinder verarscht werden. Und jetzt kommt’s: Ich glaube, dass Deine Freunde den Weg bereitet haben für meine Deichkind-Rezeption. Meine These lautet: Deichkind sind Deine Freunde für Erwachsene. Reihenhauscredibility. Tracks wie: »Fete verpennt« vom neuen Deichkind-Album »Neues vom Dauerzustand« lassen so einen Rückschluss zu: »Sie hat die Haare gekämmt/Er trägt von Prada das Hemd/Gerade noch Gabi und Jens/Jetzt sind sie schnieke, wie Barbie und Ken«. Und dann die griffige Hook »Fete verpennt Fete verpennt/Lisa hat wieder die Fete verpennt«. Und während meine Frau sich über das basslastige Elektrogebummse aufregt, wippen die Kinder mit dem Kopf und murmeln »Fete verpennt Fete verpennt …«.
Der Soziologe Hartmut Rosa würde sagen, zwischen meiner Familie und Deichkind ist eine diagonale Resonanzachse entstanden. Den Resonanzraum haben definitiv Deine Freunde eröffnet. Ich erinnere mich gut an die fassungslose Faszination, die der Track »In der Natur« beim Ersthören bei uns allen ausgelöst hat. Der Jodler! Und dann der Text, der einen an den letzten Campingurlaub erinnert. Und dann dieses Video! Resonanz!
Tracks wie »Merkste selber« (»Boombox mit zur Oma nehmen«), »Lecko mio« (»Buenos Dias Matthias«), »Kein Bock« (»Können wir das nicht morgen machen«) oder »Wutboy« (»Ich will die Dinge wieder so haben, wie sie früher waren«) könnten auch vom letzten Deine-Freunde-Album sein. Und das ist ein relevantes Qualitätsmerkmal. Und ich behaupte jetzt mal, dass das Textprinzip von Deichkind ähnlich funktioniert wie bei Deine Freunde. Eine griffige Alltagsphrase und rund drumherum ein Assoziationscluster kreieren. Funktioniert immer.
Wie ein Deichkind-Track entsteht, das haben wir fasziniert auf Youtube verfolgt. Kryptik Joe war zu Besuch bei Marti Fischers »Wie geht eigentlich Musik?«, zu sehen auf Youtube. Marti Fischer ist ein musikalisch hochbegabtes Chamäleon, der egal, ob Bob Dylan oder Slipknot, perfekt analysieren, imitieren und parodieren kann. Sehr empfehlenswert. Jedenfalls ist Kryptik Joe dort zu Gast und die beiden bauen einen Deichkindtrack mit dem Titel »Kamamamachen« (also »Kann man mal machen«) zusammen. Marti Fischer: »Hörst du dieses Geräusch, das ist die Deckenlampe, ich glaub, ich muss die abschrauben.« Kryptik Joe: »Oder gleich aufnehmen!« Später nehmen die beiden noch das Geräusch von Kryptik Joes Jacke auf.
Heraus kommt ein waschechter Deichkindtrack mit genialen Textzeilen: »Verbrannte Stellen hier am Toastbrot / Komm egal, ess ich einfach mit«. Ist jetzt auch beim Frühstück bei uns zur Dauerphrase geworden. Aber auch »Krieg doch endlich mal dein Arsch hoch / und dein Leben in den Griff, ey«. Resonanz, Resonanz, Resonanz. Hartmut Rosa, schau auf diese Band! Im Backkatalog sind wir inzwischen auch schon tief drin. Kind beim Abendessen: »Richtig gutes Zeug hier / Richtig gut, musst du mal ausprobier’n«. Viel Resonanz. Deichkind sind Deine Freunde für den Alltag!
Deichkind: »Neues vom Dauerzustand« (Sultan Günther Musik / UMG)
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!