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Wo entsteht die utopische Energie?
Traum und Realität werden eins: eine Hommage zum Welttag der Poesie
Von diesem Zustand können wir nur träumen: »Daß ein liebendes Volk in des Vaters Armen / Menschlich freudig, wie sonst, und Ein Geist allen gemein sei«. Dass Menschen und Götter eins sind, das wäre wirklich elysisch. Was hätte der Autor dieser beiden Verse, Friedrich Hölderlin, wohl zum aktuellen Krieg geschrieben? Wahrscheinlich hätte er sein literarisches Bemühen um die visionäre Erneuerung aller Verhältnisse noch verstärkt. Zu seiner Zeit, um 1800, wird bereits die Entfremdung der Moderne spürbar. Hölderlin aber träumt von einer anarchistisch-egalitären Gesellschaft. Sie wird in seinem Gedicht »Stuttgart« heraufbeschworen, im alle Gegensätze vereinenden Gesang. Denn es »zwinget die wilden / Seelen der streitenden Männer zusammen der Chor«. Das ist der Möglichkeitshorizont, der bis heute zum Kern der Poesie überhaupt gehört.
Darum lohnt es sich gerade in unserer grauen Epoche und zum heutigen Welttag der Poesie zu fragen: Welche Utopien hält die Lyrik für uns überhaupt bereit? Zugegeben, es sind natürlich weniger die perfekten, gänzlich ausgemalten Gemälde einer perfekten sozialen und demokratischen Ordnung, wie sie Thomas Morus (»Utopia«, 1516) oder Tommaso Campanella (»Der Sonnenstaat«, 1623) einst am literarischen Reißbrett entwarfen. Stattdessen folgen sie eher der Methode Ernst Blochs. Der schreibt in seinem kanonischen Werk »Das Prinzip Hoffnung« (1954): »So eben macht sich das Nicht im Prozess als aktiv-utopisches Noch-Nicht kenntlich, als utopisch-dialektisch weitertreibende Negation.« Zugegeben, das klingt etwas verschwurbelt, lässt sich aber einfach auflösen: Erst der Mangel, also das »Nicht« führt dazu, dass wir eine bessere Zukunft anstreben. Aus dem permanenten Abgleich mit dem fehlerhaften Heute und einem guten Morgen, aus dieser Wechselbewegung heraus entsteht die utopische Energie.
Die zehn am meisten unterschätzten Dichter*innen. Ausgewählt vom nd-Feuilleton (ohne Rangfolge)
Marco Tschirpke
Robert Gernhardt
Inge Müller
Jörg Fauser
Ann Cotten
Ronald M. Schernikau
Uljana Wolf
Sascha Anderson
Clemens Schittko
Annette Humpe
Dabei kommt der schönen Sprache, ihrem Fließen eine hehre Bedeutung zu. Für Brecht gab es in der Lyrik nach Goethe zwei Linien: eine »profane«, die sich auf das Alltäglich-Realistische konzentriert und für die unter anderem Heinrich Heine steht, und eine »pontifikale«, die priesterlich verkündend auf die fundamentalen Fragen eingeht, für die sowohl Hölderlin als auch Rilke stehen. Für Rilke dient Dichtung vor allem zur Umformung der Welt: »Nirgends, Geliebte,« schreibt er in seinen berühmten »Duineser Elegien«, »wird Welt sein, als innen. Unser / Leben geht hin mit Verwandlung«. Unversehens kann daher in seinen Texten die Wahrnehmung einer grazilen Gazelle in die Betrachtung einer an Daphne erinnernden Badenden im Wald gleiten, oder sich eine Blaue Hortensie überraschend noch in der letzten Versgruppe seines gleichnamigen Poems »verneuen«.
Da um 1900 nach Nietzsches Negation der Metaphysik und Freuds Entdeckung des Unbewussten alle bisherigen Konstanten des Daseins wegfallen, sucht Rilke tatsächlich nach einer Poetik, die allem Graus dieser unbeständigen Tage mit der Macht eines neuen Sehens begegnet, eines, das Äußeres im Inneren umzugestalten weiß, eines, das Trennungserfahrungen der Realität überwindet. »Alle [machten] den Fehler, dass sie zu stark unterscheiden«, betont er, und entwickelt noch in seiner Lyrik einen Kosmos, in dem Jenseits und Diesseits eine Einheit bilden, wie im altägyptischen Glauben die Götter stets unter den Menschen wohnten.
Wie existenziell diese utopische Dimension der Dichtung ausfallen kann, belegt eindrucksvoll auch der eng mit Rilkes und Hölderlins Wirken verbundene Paul Celan. Er überlebte nur knapp den Holocaust und verlor einen Großteil seiner Familie. Sein Werk wird zumeist unter den Zeichen der Verdunkelung gelesen. Und doch enthält es auch einen Möglichkeitsüberschuss. Exemplarisch wird er in seinem Poem »Einmal« über den Genozid, in dem sich folgende Verse finden: »Eins und Unendlich, / vernichtet, / ichten. / Licht war. Rettung«. Indem im Wort »Vernichten« die Neukreation »ichten« aufschimmert, wird die Auslöschung mit dem Behaupten des Subjekts verknüpft. In der Poesie wird somit das denkbar, was die Wirklichkeit nicht zuließ. Sie gebiert Licht und überwindet teilweise sogar die Grenze zum Jenseits. Celan eignet den Umgebrachten und Verstummten stets eine Stimme zu. Er lässt sie mittels lyrischer Verve ins Leben zurückkehren. Damit wir nicht vergessen. Damit das Menschliche bleibt.
Damit Text nicht einfach nur Text ist, sondern in den Lesenden Funken zündet, bedient sich die Dichtung neben der emotionalen Ansprache auch des Appells. Dadurch vermag sie die Lesenden direkt in den Wortfluss einzubeziehen und sie zu eigenständigen Gedanken anzuregen. Utopisch zu denken, versteht sich dabei also nicht nur als Einladung, sondern zugleich als zu erprobende Praxis. Das zeigt Marion Poschmann, eine der herausragenden Vertreterinnen der Gegenwartslyrik, in ihrem Band »Geliehene Landschaften« par excellence. Unmittelbar fordert sie: »Denke dich als den Traum eines Baums, jenes nichtigen / aus den Rissen im Putz, die sich weiter verzweigen. / Als ein gezähntes, sagen wir, hellblaues Blatt, das diffus / durch die Straßen trudelt, […] / denk dich ein Alibi haben und / gleichzeitig keins. Erweise dich leichthin als beides, […] / sei der Traum und die Realität, / sei utopisches Potential, sei Gartengerät.«
Die Schlusspointe verweist auf den Garten als den utopischen Raum schlechthin, weil dort der Mensch die Stelle des schöpferischen Gottes einnimmt. Es muss aber nicht unbedingt Gott sein, bei Poschmann kann sich der Mensch sogar als Pflanze denken. Die Unmöglichkeit im echten Leben, sich als Traum und Wirklichkeit zugleich zu empfinden, sie lässt sich im poetischen Universum überwinden.
Statt gänzlich konturierter Idealgemeinschaften, verortet auf fernen Planeten oder abgelegenen Inseln, vermittelt uns die Lyrik nahezu durch alle Zeiten hindurch eine Bewusstseinsform des Utopischen. Sprachliche Bilder, die uns lehren, weder an den Bedingungen der Physik, noch an der vermeintlich unveränderbaren politischen Tektonik zu verzweifeln. Sicher, Lyrik ist nicht dazu imstande, Kriegen ein Ende zu setzen oder den Frieden herbeizudichten. Dennoch kann zukunftsgerichtetes Handeln in ihr einen Anfang nehmen. Bevor sich nämlich ein konkretes Wunschziel herauskristallisiert, gilt es, den Nebel der Gegenwart zu lichten. Man sucht genauso nach ersten vagen Zeichen, wie man allmählich ein Gedicht samt seiner bildlichen Komplexität entschlüsselt. Und in einem wundersamen Augenblick bemerken wir dann vielleicht: Aus dem Wort ist Welt hervorgegangen.
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