Die Chemnitzer Wiederinbetriebnahme

Rechtzeitig zum Kulturhauptstadtjahr werden in der sächsischen Stadt Industriedenkmale zu neuem Leben erweckt

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 7 Min.

Als Markus Drieschner den Lichtschalter betätigt, ertönt ein dumpfes Brummen unter dem Hallendach. Historische Neonröhren erwachen aus langem Dämmerschlaf und tauchen eine Szenerie in flackerndes Licht, die zu einer gedanklichen Zeitreise einlädt. Dicht gedrängt stehen in der Werkhalle blassgrüne Maschinen, Paletten mit schweren Stahlteilen und Blechkisten voller Werkzeuge. Sie erinnern an Zeiten, als in dem Betrieb im Chemnitzer Stadtteil Kappel angestrengt gearbeitet wurde. Ab 1867 wurden in der von Albrecht Fürchtegott Vogt gegründeten Fabrik zunächst Maschinen zur Herstellung von Tüll gebaut. »Damit wurde das englische Monopol für derlei feine Stoffe gebrochen«, sagt Drieschner. Als Chemnitz dann Karl-Marx-Stadt hieß, bauten 1500 Menschen hier Schleifmaschinen. Nach dem Ende der DDR erhielt die Stadt ihren alten Namen zurück, und im Schleifmaschinenwerk gingen die Lichter aus. 30 Jahre später hängt der Geruch von Maschinenöl noch in der Luft. Ansonsten gleicht die Halle einem Maschinenfriedhof.

Drieschner sieht beim Blick in die Halle indes nicht das industrielle Zeitalter vor seinem inneren Auge auferstehen, sondern eine Zukunft, in der anders gearbeitet wird: digital und kreativ, in Räumen, durch die nicht Ölgeruch, sondern der Duft von Espresso zieht und in denen »organisierter Zufall« in Innovationen münden soll. Sie sollen auf Fabriketagen entstehen, die derzeit noch trostlos wirken: staubige Betonböden, nackte Ziegelwände, rostige Stahlsäulen. Drieschner indes schwärmt von locker gruppierten Schreibtischen und Lounges mit geschwungenen Sitzmöbeln. Unter der Decke sollen Bänder aus Tüll hängen, »als historische Anspielung«. Auf dem Dach, wo jetzt dicke Bahnen Teerpappe übereinander kleben, werde eine »Rooftop-Bar« den Blick in die Abendsonne erlauben. Chemnitz-Kappel werde dann ein Flair vermitteln »wie in New York«. Auf Besucher wirkt das wie ferne Zukunftsmusik. Irrtum, sagt Drieschner: »In zwölf Monaten geht es hier los.«

Chemnitz steht dann kurz davor, Besucher vom ganzen Kontinent anzuziehen: Im Jahr 2025 ist es Kulturhauptstadt Europas. Die Gäste werden in eine Stadt strömen, die bisher nicht gerade Ziel von Kulturreisen war. Es gibt eine städtische Kunstsammlung, aber kein Museum von internationalem Rang. Die Künstlerszene ist lebendig, kann aber mit der in London oder auch Leipzig nur bedingt mithalten. Es gibt weder Barockpaläste noch Fachwerkgassen; das historische Stadtzentrum sank 1945 in Schutt und Asche. Was es reichlich gibt, sind alte Fabriken. Schließlich war Chemnitz seit der Gründerzeit vor 150 Jahren als »sächsisches Manchester« bekannt; es war die Werkstatt Sachsens, in der Waren gefertigt wurde, die Leipziger Händler anschließend zu Geld machten, das dann in der Dresdner Residenz ausgegeben wurde. Anders als die sächsischen Schwesterstädte versprüht Chemnitz allenfalls spröden Charme, und vielerorts herrscht noch immer die Tristesse des Verfalls. Auch beim Schleifmaschinenwerk sind viele Fenster in der schönen gelb-grünen Backsteinfassade zerbrochen.

Nun aber scheint es, als gehe ein Ruck durch die Stadt und führe quasi zur Wiederinbetriebnahme des industriellen Erbes. In Chemnitz-Kappel soll ein derzeit noch verwaistes früheres Straßenbahndepot zum zentralen Schauplatz der Kulturhauptstadt werden. Es liegt nur wenige Schritte entfernt vom Schleifmaschinenwerk. Das wiederum werde ebenfalls ein »Leuchtturm für die Kulturhauptstadt«, sagt Frank Theeg, einer von drei Investoren des Projektes, das sich selbstbewusst »die fabrik chemnitz« nennt. »Wir werden international Aufmerksamkeit erregen«, sagt Theeg. Er wurde 1974 in Karl-Marx-Stadt geboren, hat in Israel und den USA gearbeitet und den dortigen Gründer-, Erfinder- und Unternehmergeist aufgesogen, den er nun nach Chemnitz übertragen möchte – in eine Stadt, die sich damit ein wenig schwer tut: Die Einheimischen stellten ihr Licht gern unter den Scheffel und »urteilen eher negativ über ihre Stadt«, sagt er. Klara Geywitz, die in Potsdam gebürtige Bundesbauministerin, stimmt zu: Die Chemnitzer seien »nicht unbedingt als extrovertiert und fröhlich bekannt«, sagte sie diese Woche bei einem Besuch in der Stadt.

Das mag einen Grund auch in den vielen Industriebrachen haben, die permanent an schmerzhafte Brüche der jüngeren Geschichte erinnern. Nicht nur das Schleifmaschinenwerk fiel dem Übergang von der sozialistischen zur Marktwirtschaft und dem Agieren der Treuhand zum Opfer, sondern auch viele andere Betriebe des Maschinenbaus und der Textilindustrie mit Tausenden Arbeitsplätzen. Inzwischen sind zwar neue Firmen und Jobs entstanden. Sie sind aber meist in gesichtslosen Hallen am Stadtrand ansässig. Von den Zeugen der Vergangenheit wurden nur wenige mit neuem Leben erfüllt. Einer ist der frühere VEB Webstuhlbau, der bereits Ende der 1990er Jahre von einem Investor aus Österreich erworben und zu einem Gewerbestandort entwickelt wurde, an dem heute 110 Unternehmen mit 1100 Beschäftigten ansässig sind: »Die Spanne reicht von der Schwerindustrie über Computerfirmen bis zum Tanzstudio und einem syrischen Hamam«, sagt Steve Tietze, Geschäftsführer des Areals, das unter Bezug auf den einstigen Gründer als »Schönherr-Fabrik« vermarktet wird.

Für andere einstige Firmengelände fand sich lange keine Nutzung – was im Versuch, die vermeintlichen Wunden aus dem Stadtbild zu tilgen, auch zu vielen Abrissen führte. Eine fatale Entwicklung, sagt der Fotograf Michael Backhaus. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die architektonischen Zeugnisse vor ihrem Verschwinden mit der Kamera zu dokumentieren. Zudem engagiert er sich in Initiativen wie dem Verein »Lebensraum Industriestadt Chemnitz« und dem »Stadtforum Chemnitz« für ihre Bewahrung. Die Erbauer der historischen Fabrikgebäude aus der Gründerzeit hätten oft »einen hohen ästhetischen Anspruch« gehabt, sagt er: Fassaden, die vom Jugendstil geprägt sind, oder Fabrikhallen im Stil der Neuen Sachlichkeit. Die Summe der von ihnen hinterlassenen architektonischen Zeugnisse habe Chemnitz als »Kulturstadt« ausgemacht, sagt Backhaus. Er und seine Mitstreiter hätten auf eine Umnutzung der Fabriken als Wohnungen, Büros oder Ateliers gedrängt, seien aber oft als »Störenfriede« wahrgenommen worden. Stattdessen wurden nach 1990 Neubauten errichtet, die freilich gesichtslos und wie aus der Retorte wirkten. Viele »Kleinode« seien dagegen verschwunden, sagt Backhaus. Aus dem Ensemble der einstigen Industriemetropole sei »eine fragmentierte Stadt« geworden.

Jetzt scheint es immerhin eine Chance für jene Zeugnisse des Industriezeitalters zu geben, die überdauert haben. Ein Auslöser ist der Zuschlag als Kulturhauptstadt, ein anderer ein Sinneswandel, der durch den Klimawandel und die zunehmende Rohstoffknappheit ausgelöst wurde und in den alten Fabriken nicht mehr Ruinen sieht, sondern gebundene Energie und Materialien. Der Umbau alter Industriedenkmäler und deren Umnutzung, sagte Bundesministerin Geywitz in Chemnitz, sei »der ideale Weg, um die vorhandenen Ressourcen sinnvoll und nachhaltig einzusetzen«. Die SPD-Politikerin fügte hinzu, von derlei »innovativen Umbauten brauchen wir in Deutschland mehr«. Bund und Land fördern derlei Aktivitäten. Allein für das frühere Schleifmaschinenwerk seien 380 000 Euro an Fördermitteln für den Städtebau beantragt worden, heißt es aus dem Ministerium von Geywitz´ sächsischem Amtskollegen Thomas Schmidt (CDU). Insgesamt habe die Stadt Chemnitz innerhalb von 30 Jahren über 266 Millionen Euro aus dem entsprechenden Topf erhalten.

Es gibt freilich noch einen Grund für das steigende Interesse an den alten Chemnitzer Fabrikgebäuden: Platzmangel und explodierende Mieten in anderen Städten, die besonders der Kreativszene und Startups zunehmend zu schaffen machen. Nach dem Fall der Mauer boomte diese zunächst in Berlin, wo leer stehende Häuser und Gewerbeareale wie das legendäre Tacheles preiswerte Freiräume boten. Später zog die Karawane nach Leipzig weiter, wo in einstigen Industrievierteln wie Plagwitz etwa die alte Baumwollspinnerei in Beschlag genommen wurde. Die Folge waren jeweils Gentrifizierungsprozesse, die zu steigenden Mieten und Verdrängung führten. Nun sei es in beiden Städten »sehr voll und sehr teuer«, sagt Geywitz. In Chemnitz dagegen, betont Frank Theeg, »gibt es noch viel Freiraum für kreative Ideen«.

Es ist eine Entwicklung mit Licht- und Schattenseiten. Einerseits besteht dadurch Hoffnung, die wertvollen Zeugen der industriellen Vergangenheit doch noch erhalten und einer neuen Nutzung zuführen zu können. Andererseits reifen nun auch in Chemnitz Spekulantenträume. Das frühere Schleifmaschinenwerk habe ein Investor nach 1990 für 10 000 Euro gekauft, sagt Theeg; er und seine Mitstreiter hätten für die Immobilie, an der in der Zwischenzeit kaum ein Handschlag erfolgt sei, 600 000 Euro auf den Tisch legen müssen, um ihr Projekt umsetzen zu können. Nun wollen sie in den nächsten zwölf Monaten zunächst zwölf Millionen Euro in die Sanierung des Fabrikgebäudes stecken. Theeg träumt von einer Art Brutschrank für den Chemnitzer Erfindergeist. Schon jetzt gebe es reges Interesse bei renommierten Firmen der Stadt, die Mitarbeiter ihrer Entwicklungsabteilungen in der »fabrik« einmieten wollen in der Erwartung, dass sie dort im Austausch mit anderen neue kreative Impulse erhalten. »Das ist ein Modell, das international bewährt ist, in Chemnitz aber neu wäre«, sagt Theeg. Später sollen auch die zugehörigen Werkhallen umgebaut werden. Der Friedhof der Schleifmaschinen unter brummenden Neonröhren wäre dann Geschichte. Das Gebäude, in dem er heute steht, hätte aber eine Zukunft.

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