Dichter Hesse: »Hab tausend Dank, du Lieber«

Vom abgelehnten Kind zum »Herzensbub«: Hermann Hesse und Sohn Martin in ihren Briefen

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 7 Min.

Er war der Jüngste. Er hieß Martin, und man nannte ihn »Brüdi«, kleiner Bruder. Wie Bruno und Heiner entstammte er, geboren 1911, Hermann Hesses erster und krisenhafter Beziehung mit der manisch-depressiven Maria Bernoulli. Die Ehe, geschlossen 1904, offenbarte mitten im Ersten Weltkrieg ihre tiefen Risse, führte im Frühjahr 1919 zur Trennung und zur Übersiedlung Hesses von Bern nach Montagnola, schließlich zur Scheidung. Die Söhne wuchsen in fremder Umgebung auf. 

Ein Tagebuchblatt Brunos aus dem Sommer 1920 dokumentiert die Misere, in der die beiden Älteren steckten. Erst kamen sie in einer Ferienkolonie für Kinder unter, danach verbrachten sie »ein paar düstere Monate« bei einem Tyrann, der ihre Briefe kontrollierte und bei jeder Gelegenheit gewalttätig wurde. Dann die Erlösung: Bruno, 1905 geboren, kam zu einem mit Hesse befreundeten Maler, der dem »Brücke«-Kreis nahestand, und wurde selber Maler. Heiner, Jahrgang 1909, der rebellischste von ihnen, traf es nicht so gut. Er musste eine lange Odyssee durch Kinderheime und Schulinternate auf sich nehmen und ließ sich später zum Schaufensterdekorateur ausbilden. Martin, verhaltensauffällig nach einer Hirnhautentzündung, labil und von Hesse, der ihn im Haus nicht haben wollte, strikt gemieden, künstlerisch begabter als seine Brüder, kam zu einem befreundeten Landarzt und seinen beiden Töchtern, die ihm bald die Mutter ersetzten. Er ist, vielseitig talentiert, Fotograf geworden, geschätzt für seine eindrucksvollen Schwarz-Weiß-Aufnahmen (dass er farbenblind war, erfuhr man erst später). Er nahm sich, schwermütig und depressiv wie seine Mutter, 1968 im Alter von 57 Jahren das Leben.

Hesse sah seine Söhne nur gelegentlich. Das Gespräch mit ihnen, das nie abriss, wurde schriftlich geführt. Er war ein Leben lang ein begnadeter, einfühlsamer und ungemein fleißiger Briefschreiber, und wenngleich man die gesamte, unfassbar umfangreiche Korrespondenz nie zwischen Buchdeckel finden wird, so erhält sie in den vielen edierten Sammlungen und Briefwechseln immerhin den Platz, der ihr gebührt. Schon vor zwei Jahren, als Suhrkamp den von Michael Limberg sowie den Enkeln Silver und Simon Hesse edierten Austausch mit Bruno und Heiner publizierte, konnte man sehen, wie liebe-, auch wie sorgenvoll, mit welcher Neugier und Anteilnahme Hesse sie begleitete, bemüht, den Jungen, die ihn meist ausführlich über ihr Denken und Tun unterrichteten, mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, sie vor allem zu ermuntern, ihren eigenen Zielen zu folgen. Von den über 2000 Briefen, die erhalten sind, stellte der Band 280 vor. Martins Schreiben fehlten. Sie lagen, teilten die Herausgeber damals lakonisch mit, für die Ausgabe nicht vor. So blieb es bei den Kostproben, die das Literaturhaus Berlin 2017 in einer Ausstellung vorstellen konnte.

Aber nun ist unter dem Titel »Mein lieber Brüdi!« auch die Korrespondenz mit Hesses Jüngstem da, eine bescheidene Auswahl auch dies, aber immerhin: Von den ungefähr tausend überlieferten Seiten bringt der Band, den Gunnar Decker unter Mitarbeit der Enkelin Sybille Siegenthaler-Hesse und ihrer Söhne ediert hat, etwa ein Drittel; doch noch im Ausschnitt ist der schwierige Annäherungsprozess eindrucksvoll abgebildet. Beide kommen, wenn sie zueinanderfinden, von weit her. 

Martin ist sieben Jahre alt und lebt beim Landarzt in Kirchdorf bei Bern, wenn der Vater ihm zum Weihnachtsfest 1918 einen Brief und ein Geschenk schickt. Noch bleibt es bei sporadischen Grüßen und Berichten. Martin erzählt von Kaninchen, Schafen und vom Fischen, von Gartenarbeit und Bergtouren. Hesse, bemüht, die Wunde in ihrer Beziehung zu heilen, schickt Malereien und Geld und nach ein paar Jahren, wenn der Ton vertrauensvoller geworden ist, auch mal knappe Berichte über seine literarische Arbeit und die gesundheitlichen Beschwerden, das Rheuma, die Gicht, die Augenschmerzen. Er formuliert warmherzig, interessiert sich für alles, was der Sohn treibt, und wird in seiner Wortwahl erst energischer und eindringlicher, als er Martins rasch wechselnde Berufswünsche bemerkt, dazu die Schwierigkeiten, ihm zu raten. Es wird lange dauern, bis die wirkliche Berufung gefunden ist. In den Monaten, die der gut Zwanzigjährige im Dessauer Bauhaus verbringt, entdeckt er, ermuntert von Hesse, die Fotografie und wird sich, nachdem er lange seinen Platz in der Welt gesucht hat, für die Arbeit mit der Kamera entscheiden. Neben Architekturaufnahmen und Fotos für Warenhauskataloge widmet er sich vor allem der Porträtfotografie und dabei mit besonderer Leidenschaft und Intensität dem eigenen Vater. Die schönsten, aussagekräftigsten Fotos, die es von Hesse gibt (und von denen der Band einige vorstellt), stammen von ihm.

Selten hat Hermann Hesse so viel über seinen Alltag preisgegeben wie hier in diesem Gespräch, das in den Jahren der Hitler-Diktatur und des Krieges immer intensiver und vertrauensvoller wird. Er sei, schreibt er im Februar 1940, »zur Zeit zu schlecht beieinander, an Leib und Seele«, geplagt von Zahnschmerzen und Postbergen, einer Diätkur, von Müdigkeit, Blutleere und Schwäche. Sie alle, Vater mitsamt den Söhnen, sind erbitterte Gegner der Nazis. Hesse hilft anderen, Verfolgten und Bedrohten, wo immer er kann, aber die Möglichkeiten sind gering. Inständig hofft er auf den Sturz Hitlers, und er ist froh, dass er nach elf Jahren seinen Roman »Das Glasperlenspiel« noch fertigschreiben konnte, »ehe meine geistigen Kräfte nachzulassen begannen«. Das Buch, erfährt Martin im Dezember 1943, war ihm »ein Panzer gegen die hässliche Zeit und eine magische Zuflucht, in die ich, so oft ich geistig dazu bereit war, für Stunden eingehen konnte, und wohin kein Ton aus der aktuellen Welt drang«. In Deutschland darf der Roman mit seiner Zeitkritik allerdings nicht erscheinen und wird vom kleinen Zürcher Verlag Fretz & Wasmuth veröffentlicht. Und auch die Abrechnung der noch verfügbaren Restbestände des S. Fischer-Verlages ist deprimierend. »So ist das also«, meint Hesse. »Und wenn ich schon mein Leben lang den Krieg für eine dumme und wertlose Art der Verständigung zwischen Menschen gehalten habe, so tat ich es jetzt noch mehr.«

Später, nach dem Krieg, wird ihm Hans Habe, zuständig für die Zeitungen in der US-amerikanischen Besatzungszone, das Recht streitig machen, zu den Deutschen zu sprechen, weil er angeblich nicht deutlich genug gegen die Naziherrschaft protestiert habe (was ihm durch das Neutralitätsgebot der Schweiz auch nicht möglich war). Martin, längst der »Herzensbub«, steht ihm voller Empörung bei. »Ich habe genug von der Welt und vom Leben«, erklärt Hesse im November 1945, »und bin mehr als todmüde«. Er hat den Eindruck, dass alles, was er getan hat, umsonst war. Im Jahr danach wird man ihm den Goethe- und auch den Nobelpreis verleihen. Beide Auszeichnungen nimmt er nicht selber entgegen. »Aber bei der Post, unter den vielen hundert Briefen, die wir nun so allmählich öffnen und lesen«, schreibt der Siebzigjährige im Juli 1947, »ist sehr viel wahrhaft Schönes und Rührendes«. Den letzten Brief Martins vom 9. August 1962 hat er nicht mehr lesen können. Er schließt mit den Worten: »Hab tausend Dank für deine überreichlichen Gaben, du Lieber.

Gunnar Decker, exzellenter Hesse-Kenner, Verfasser der besten Biografie und eines kleinen Hesse-Lexikons, hat dem Band einen Aufsatz vorangestellt, der auf der Grundlage aller von den Erben gehüteten Briefe eine bestechende Ansicht dieser Vater-Sohn-Beziehung bietet. Anders als in der Hesse-Korrespondenz mit Bruno und Heiner, wo die Auskünfte über die Söhne relativ knapp ausfielen, wird dabei auch Martins Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen eingehend behandelt. Der Text profitiert nicht zuletzt von Deckers Begegnung mit dem kranken Heiner Hesse, der ihn 2002 in seiner Mühle oberhalb des Lago Maggiore noch empfangen hat. Ihm, dem Waldmenschen und »alten Europäer«, der bald darauf mit 93 Jahren starb, sowie den Kontakten zu Martins Tochter Sybille und ihren Söhnen, hat er viele seiner genauen Kenntnisse über Hesse und seine Familie zu verdanken. Auch hier zahlt es sich auf beeindruckende Weise aus.

Hermann Hesse: »Mein lieber Brüdi!« Briefwechsel mit seinem jüngsten Sohn Martin. Hg. von Gunnar Decker. Unter Mitarbeit von Sybille Siegenthaler-Hesse, Hanspeter, Martin und Matthias Siegenthaler. Suhrkamp, 400 S., geb., 38 €.

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