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Kolonialismus: Verbrechen im Namen der Wissenschaft
Knochen von Opfern des Kolonialismus und vielleicht auch des Faschismus bestattet
An der Kapelle des Waldfriedhofs in Berlin-Dahlem erklingt am Donnerstagmorgen die Sonate Nr. 1 für Violoncello und Klavier – komponiert 1978 von Alfred Schnittke. Das Violoncello spielt ein Musiker live, das Klavier kommt aus der Tonkonserve. So beginnt die Trauerfeier für mindestens 54 Menschen, deren sterbliche Überreste vor sehr langer Zeit im Dienste einer unmoralischen Auffassung von Wissenschaft missbraucht worden sind.
Im Juli stießen Bauarbeiter an einer Bibliothek der Freien Universität in einem schmalen Leitungsgraben auf Knochen. Hinzugezogene Archäologen entdeckten dann bei mehreren Grabungen rund 16 000 überwiegend stark fragmentierte Knochenteile. Es lag der Verdacht nahe, dass es sich hier um Opfer von Verbrechen im Namen der Wissenschaft handelt. Denn die Ihnestraße 22 beherbergt heute zwar das unbescholtene Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft. Doch von 1927 bis 1945 saß hier das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik – und das kippte nicht erst in der Nazizeit in ein rassistisches und krudes Menschenbild, das Auslese für notwendig hielt und damit den Weg für Zwangssterilisierungen und Mord bereitete.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass die gefundenen Knochen zu Opfern des Kolonialismus gehören. Es ist darüber hinaus nicht auszuschließen, dass die Archäologen hier auch auf Opfer des Faschismus gestoßen sind. Schließlich kooperierte der berüchtigte Josef Mengele mit dem Kaiser-Wilhelm-Institut. Der KZ-Arzt von Auschwitz schickte Kartons mit Knochen von Ermordeten zur weiteren Untersuchung nach Berlin, wie Dotschy Reinhardt vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma am Donnerstag bei der Trauerfeier erläutert. Die Jazz-Musikerin erzählt, wie Institutsmitarbeiter kurz vor Kriegsende hastig versuchten, die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen. Möglicherweise sind damals die Knochen in eine Grube gekippt worden.
Aber seit wann die Knochen in der Erde lagen und wer die Opfer sind, das lässt sich heute nicht mehr genau bestimmen. Untersuchungen ergaben lediglich, dass es sich um männliche und weibliche Personen verschiedenen Alters handelte. Doch um herauszufinden, aus welchen Kolonien die Opfer stammten oder ob auch wirklich in der Nazizeit ermordete Juden darunter gewesen sind, müssten andere Tests gemacht werden. Das unterbleibt aber. In einem Dialog haben sich Beteiligte wie der Zentralrat der Afrikanischen Gemeinde, die Vertretung der namibischen Herero in Berlin, der Verein Postkolonial und die Arbeitsgemeinschaft der »Euthanasie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten darauf verständigt, dass die Knochen nun ohne weitergehende Untersuchung würdig bestattet werden.
»Es gilt: Opfer sind Opfer. Trauer fragt nicht nach Herkunft«, erklärt Daniel Botmann vom Zentralrat der Juden. Auch wenn seine Gemeinde die Frage bewegte, ob denn nun wirklich Juden unter den aufgefundenen Opfern waren: Der rassistischen Denklogik der Nazis habe man sich nicht unterwerfen wollen.
Weil sich die Toten nicht bestimmten Religionen oder Weltanschauungen zuordnen lassen, erfolgt eine interkulturelle Beisetzung ohne Ansprache von Geistlichen. Man habe sich bemüht, eine Form der Bestattung zu finden, die allen Opfern gerecht werde, sagt Professor Ulman Lindenberger. Seine Max-Planck-Gesellschaft wurde 1948 unter demokratischen Verhältnissen gegründet, trägt aber das schwere Erbe der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, aus der Personal zur Planck-Gesellschaft gestoßen war. Damit setzte man sich aber erst nach der Jahrtausendwende kritisch auseinander, bedauert Lindenberger.
»Es gibt Untaten, über welche kein Gras wächst«, zitiert Universitätspräsident Günter M. Ziegler den Schriftsteller Johann Peter Hebel (1760–1826). Ziegler fragt aber angesichts der fünf kleinen Holzsärge mit den Knochen: »Hätte nicht über diese Untaten Gras wachsen können, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre?« Ohne dass aktiv und beharrlich dagegen angegangen werde, könne über jedes Verbrechen Gras wachsen, auch über diese Verbrechen »im Namen der Wissenschaft«, ist der Mathematikprofessor überzeugt. »Wir kennen nicht die Namen, nicht die Gesichter, nicht die Identität und nicht die Geschichte dieser Opfer«, beklagt er. »Aber es sind Menschen!« Eine Spezifizierung würde nur die rassistischen Sichtweisen der einstigen Täter reproduzieren, findert er genauso wie Daniel Botmann und die anderen. Ziegler verspricht, die Freie Universität werde sich auch in Zukunft dafür einsetzen, »dass über Untaten im Namen der Wissenschaft kein Gras wächst«.
Es formiert sich ein Trauerzug von rund 200 Personen, und schließlich werden die fünf Särge in eine vorbereitete Grabstelle hinabgelassen, die am Zaun des Friedhofs zum Hüttenweg hin liegt. Am Ende der Reihe 16E ist sie zu finden. Dort wird auch eine Gedenktafel mit einer umfangreichen Erklärung aufgestellt.
Sicher ist derweil, dass nicht noch mehr Knochen an der Ihnestraße 22 im Erdreich schlummern. Denn das ergab im Frühjahr 2022 ein Bodenradar.
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