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Frankreich: Mehr leben, weniger arbeiten
Nach der Zustimmung des Parlaments zur Rentenreform verschärfen sich die Proteste
Emmanuel Macrons Rentenreform treibt weiterhin die Französ*innen auf die Straße. Am Donnerstag kamen zum mittlerweile neunten Aktionstag gegen die Reform deutlich mehr Menschen auf die Straßen als zuvor: Die Gewerkschaft CGT sprach von 3,5 Millionen, das Innenministerium gab an, etwas mehr als eine Millionen Menschen hätten demonstriert.
Hauptbestandteil des Reformpakets ist eine schrittweise Anhebung des Renteneintrittalters um zwei Jahre, von 62 auf 64 Jahre. Umfragen zufolge lehnen 70 Prozent der Französ*innen und 90 Prozent der französischen Arbeitnehmer*innen das Gesetz ab. Angesichts der Proteste sah Emmanuel Macron sich zu einer öffentlichen Äußerung gezwungen. Der Staatspräsident tat dies am Mittwoch im Rahmen eines halbstündigen Fernsehinterviews. Er wirkte genervt, angespannt und wenig souverän. Ob die Interviewenden denn glaubten, dass ihm diese Reform Freude mache, fragte er. Es sei, so sein Fazit, nicht schön, aber notwendig. Demokratisch sei es obendrein: Schließlich bestimmten nicht Umfragen die Politik, sondern die gewählten Vertreter*innen des Volkes.
Was er verschwieg: Die Zustimmung des Parlaments hatte er nachgerade erpresst, indem er den Gesetzesentwurf an ein Vertrauensvotum für die Regierung band. Nur deswegen passierte der Gesetzentwurf das Parlament, nur neun Stimmen fehlten dem Misstrauensvotum gegen die Regierung zur absoluten Mehrheit. Ob dieses Vorgehen verfassungsgemäß war, prüft jetzt der Verfassungsrat; ebenso, ob nicht ein Referendum das Gesetz kippen könnte. Beide Szenarien sind möglich, aber unwahrscheinlich; die wahrscheinlichste Option ist, dass Macron und seine Regierung unter dem Druck der Straße einknicken werden, wie auch frühere Rentenreformen gescheitert sind, weil die Streikenden sonst das Land lahmgelegt hätten.
Dass dieser Druck zumindest nicht abnimmt, dafür hat Macron selbst gesorgt. In besagtem Interview beschuldigte er die Gewerkschaften, keinerlei Kompromissvorschlag vorgelegt zu haben. Philippe Martinez, Generalsekretär der CGT, reagierte umgehend: Macron verarsche Millionen protestierender Französ*innen. Auch Vertreter*innen anderer Gewerkschaften bezichtigten den Präsidenten der glatten Lüge.
Die sehr deutliche Wortwahl, die insbesondere Martinez pflegt, ist Teil eines Kulturkampfes. Macron ist explizit angetreten, die Gewerkschaften zu entmachten. Eine Zeit lang sah es auch so aus, als könne ihm das auch gelingen: Als er 2017 ein großes Arbeitsmarktreformpaket durchdrückte, war der Widerstand überschaubar. Die Linke befand sich in einem erbärmlichen Zustand: Die Kommunist*innen verlieren seit Jahrzehnten an Bedeutung, der Parti Socialiste wurde komplett zerrieben, einzig Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon mit seiner Sammelbewegung La France Insoumise (etwa: das widerspenstige Frankreich) gelang es, relevante Mengen an Wähler*innen zu mobilisieren.
Macron galt vielen französischen Wähler*innen und auch internationalen Berichterstatter*innen als tendenziell links, weil er sich strikt proeuropäisch positionierte und nicht Marine Le Pen ist. Er fand großen Anklang in linksliberalen Milieus, die seine ersten neoliberalen Reformen zwar nicht guthießen, aber auch nicht verdammten. Von diesem Puffer zehrt Macron, er hat ihn bei unpopulären Entscheidungen immer wieder über die Schwelle getragen. Das könnte bei der jetzigen Rentenreform anders sein.
Deswegen bemüht Macron in jenem Interview immer wieder einen alten Trick: divide et impera – teile und herrsche. Die friedlichen Proteste nimmt er hin und akzeptiert sie auch, aber die Gewalt, die sich am Rande dieser Demonstrationen immer wieder Bahn bricht, will er allgemein verurteilt wissen. Auch die Gewerkschaften wandten sich teilweise gegen die Ausschreitungen: »Wir wollen nicht-gewaltvolle Aktionen, die Güter und Menschen respektieren«, forderte Laurent Berger von der moderaten Gewerkschaft CFDT. »Macron ist derjenige, der das Land in Brand setzt«, sagte hingegen Celine Verzeletti von der Gewerkschaft CGT.
Es gibt diese Gewalt: In vielen Orten wurden Barrikaden angezündet, Protestierende warfen Steine auf die Fassade von Häusern, in denen Parlamentsabgeordnete wohnen. Der Brand an der Eingangstür des Rathauses von Bordeaux ging durch die Medien. Videos der Aktion legen allerdings nahe, dass es von Rechten angezündet wurde: Die Parolen, die zu hören sind, werden von Marine Le Pens Rassemblement National genutzt. Die Partei versucht eher wenig erfolgreich, in den linken Protesten Fuß zu fassen.
Was Macron allerdings nicht erwähnt: Die Gewalt ist mindestens dreiseitig. Sie besteht in der realen Gewalt, die er den Französ*innen durch diese Reform antut. Sie besteht außerdem in der Form der Einschüchterung der Demonstrierenden: Jene können ohne Angabe von Gründen präventiv in Haft genommen werden; eine Praxis, die bereits während der Proteste 2017 von Amnesty International als bedrohlich eingestuft wurde. Nach Angaben von Innenminister Gérald Darmanin waren rund 12 000 Polizisten im Einsatz – 5000 davon allein in Paris. Aus diesen Zusammenhängen heraus ergibt sich erst die Gewalt auf der Straße, die Macron als Einziges anspricht. Er spricht sie an, weil er sie fürchtet, weil sie funktioniert; ohne diese Gewalt wird die Rentenreform in Frankreich nicht verhindert werden.
Zurückstecken werden die Gewerkschaften und die Opposition nicht; der nächste Aktionstag ist schon angekündigt für kommenden Dienstag. Wenn es gut läuft, läutet dieses Datum das Ende der Ära Macron ein.
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