- Berlin
- Berliner Senat
Liebeserklärung an die Wirtschaft
Halbzeit der Koalitionsverhandlungen von CDU und SPD in Berlin
»Die letzten vier, fünf Tage waren gut«, strahlt der SPD-Landesvorsitzende Raed Saleh am späten Freitagnachmittag im lichtdurchfluteten Atrium des Berliner Abgeordnetenhauses. Gegen 15.30 Uhr ist er mit der SPD-Politikerin Franziska Giffey (Regierende Bürgermeisterin auf Abruf) und mit dem CDU-Politiker Kai Wegner (Regierender Bürgermeister in spe) im dritten Obergeschoss aus dem Festsaal 306 herausgetreten, um die seit einer halben Stunde wartenden Journalisten über den Stand der Koalitionsverhandlungen zu informieren. Um 16.30 Uhr verschwinden sie wieder an die im Saal gedeckten Tische. Man liege »immer noch im selbstgesteckten, ambitionierten Zeitplan«, versichert Kai Wegner gut gelaunt. Jetzt sei die »Halbzeit« der Koalitionsverhandlungen, schätzt CDU-Generalsekretär Stefan Evers zuversichtlich ein. Wegner sagt: »Was wir nicht brauchen, sind Endlosdebatten. Wir brauchen auch keinen Sand im Getriebe.«
Von 13 Arbeitsgruppen haben neun ihre Ergebnisse bereits der übergeordneten Dacharbeitsgruppe übergeben, die ihren Segen erteilen muss. Diese wurden am Freitag begutachtet. Auf mehr als 200 Einzelmaßnahmen habe man sich bereits geeinigt, heißt es nun. Darunter ein Masterplan Sportinfrastruktur, ein Sondervermögen Klimaschutz (»ein wahrhaftes Kraftpaket«), mehr Geld zur Finanzierung der Hochschulen (»eine Schippe drauflegen«) und Maßnahmen gegen Altersarmut und Kinderarmut sowie Obdachlosigkeit (»das ist mir persönlich wichtig«) – alles O-Ton Kai Wegner. Auch solle der Meisterbrief künftig gebührenfrei sein, sprich: der Staat übernimmt die Kosten, die von den Handwerkern bislang noch aus eigener Tasche bezahlt werden müssen.
»Mir gefällt es sehr, dieses strukturierte Herangehen an schwierige Themen«, schwärmt Franziska Giffey, als ob es ihr überhaupt nichts ausmacht, nach Abschluss des Koalitionsvertrages ihren Chefposten im Senat aufgeben zu müssen. Angeblich gibt es keinerlei Probleme miteinander, die sich nicht lösen lassen, keine ersichtlichen Punkte also, an denen die Verhandlungen noch scheitern könnten. Was die Fachpolitiker in den einzelnen Arbeitsgruppen vorlegen, das findet demnach in der Dachgruppe Wohlwollen. Was nicht gleich durchgewinkt wurde, das seien die Projekte in dreistelliger Millionenhöhe. Die sollen bei aller Sympathie noch einmal auf ihre Finanzierbarkeit hin abgeklopft werden. »Ich finde die Vorschläge gut. Aber es gibt einen Haushalt«, erklärt Wegner.
Klargestellt wird auch: Mit der angeblich schon hergestellten Einigung zur umstrittenen Randbebauung des Tempelhofer Feldes ist es so eine Sache. Der Flughafen Tempelhof wurde 2008 geschlossen und schon damals gab es die Idee, dort Wohnungen zu bauen. Aber ein Volksentscheid kippte diesen Plan im Jahr 2014. Nun steht das trotzdem wieder im Raum. Aber die Randbebauung habe die Dachgruppe noch nicht passiert und diese habe das letzte Wort, erläutert der SPD-Vorsitzende Saleh. Über die schon erzielten Einigungen sagt er, diese wären auch eine »Liebeserklärung an den Wirtschaftsstandort Berlin«. Das klingt bezeichnend für den beabsichtigten Wechsel der SPD weg von dem linksorientierten rot-grün-roten Senat hin zu einem konservativen schwarz-roten. Doch Saleh präzisiert seine Aussage – und dann hört es sich nicht mehr gar so verdächtig an. So spricht er zwar von einer angestrebten »wirtschaftsstarken Gesellschaft«, aber auch von einer »solidarischen«. Er fordert: »Überall, wo Arbeitsplätze entstehen, müssen gute Arbeitsplätze entstehen.«
Die von Franziska Giffey beschworene »Willkommenskultur für Unternehmen« beinhaltet aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht die von Noch-Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) ersehnte Ausbildungsumlage. Und was es bedeutet, dass CDU und SPD das für öffentliche Aufträge geltende Vergabegesetz »entschlacken« und »entbürokratisieren« wollen, das bleibt abzuwarten.
Immerhin wird die schrittweise Rückführung von Tochterfirmen in die Universitätsklinik Charité versprochen. Das ist allerdings nicht überraschend. Denn schon vor der Wiederholungswahl am 12. Februar, aus der die CDU als Sieger hervorging, hatte niemand noch ernstlich etwas dagegen, die Fehlentscheidung der Ausgliederung zu korrigieren. Für die Beschäftigten der Tochterfirmen heißt dies, sie werden künftig nicht länger mit Löhnen unter Tarif abgespeist. »Das ist der große Wurf, weil es viele Tausend Menschen betrifft«, jubelt Saleh. Außerdem soll der Vergabemindestlohn dynamisiert werden, den Firmen ihren Mitarbeitern mindestens bezahlen müssen, wenn sie einen Auftrag vom Staat erhalten wollen. Von einst 8,50 Euro pro Stunde wurde diese Lohnuntergrenze auf 13 Euro angehoben – teils begleitet von zähen Debatten. Nun soll die Anpassung mit einem Indikator so dynamisiert werden, dass die Beschäftigten immer von ihrem Lohn leben können, ohne lange Entscheidungsprozesse in der Politik abzuwarten. Das könnte praktisch bedeuten: Steigen die Lebenshaltungskosten, steigt der Vergabemindestlohn quasi automatisch im selben Maße. »Das betrifft Hunderttausende«, sagt Saleh.
Reinen Pragmatismus verspricht CDU-Generalsekretär Evers: »Hier geht es nicht um ›Mehr Sozialismus wagen‹ oder Neo-Kapitalismus.« Konkret versprochen wird eine neue Kinderklinik und ein Bekenntnis zur Komischen Oper. Das heißt dann aber noch nicht, dass die Oper ihren Erweiterungsbau erhält – egal, wie teuer das wird. »Baupläne für die Erweiterung haben wir uns nicht angesehen«, gesteht Franziska Giffey auf Nachfrage. Vorerst soll nur das Signal ausgesendet werden: »Die Kultur braucht keine Angst zu haben.« Auch die Mieter von Genossenschaftswohnungen sollen sich keine Sorgen machen, dass sie dem Neubau eines Fußballstadions für den Verein Hertha BSC weichen müssen. Den Stadionbau wollen CDU und SPD prinzipiell unterstützen, aber sensibel in der Wahl des Standorts. Um ein bis anderthalb Formulierungen in dieser Passage des Koalitionsvertrags werde noch gerungen, verrät Kai Wegner.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.