»Die Helden der Sowjetunion sind auch unsere Helden«

Götz Aly über »unseren« Nationalsozialismus und unbewältigte Vergangenheit

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 5 Min.
Sowjetische Truppen in Berlin im Mai 1945.
Sowjetische Truppen in Berlin im Mai 1945.

Deutschland arbeitet auf, bewältigt seine Vergangenheiten und schwört, wenn es um seine Zukunft geht: Nie wieder! Neuerdings, allerdings erst beschämende 100 Jahre nach seiner Beendigung, ist auch die Beschäftigung mit dem kurzen, blutigen deutschen Kolonialismus kräftig im Gange. Mit der Verfolgung der Verbrechen des Naziregimes hatte man es nach 1945 ebenso weder eilig noch nahm man diese zunächst sonderlich ernst. Später wollte man es besser machen, schüttete nach dem Fall der Berliner Mauer das Kind vorsorglich mit dem Bade aus und »bewältigte« die Lebensläufe großer Bevölkerungskreise der DDR gleich mit weg. Auch damit sollten sich Historiker beschäftigen. Vermutlich werden sie sich auch demnächst mit den vermeintlichen Fehlern der angeblich russlandfreundlichen Außenpolitik unter der Kanzlerin Angela Merkels beschäftigen müssen, ebenso wie mit dem Anteil Deutschlands an der weltbedrohenden Kohlendioxid-Konzentration in der Atmosphäre. Schafft ein Land das alles, wenn es sich zugleich um die Herausforderungen der Gegenwart und wenigstens der näheren Zukunft kümmern muss?

Die größte Hypothek der Erinnerungsarbeit wird jedoch die Hitlerdiktatur bleiben, die menscheneigenem Vergessen immer wieder entrissen werden muss. Einer, der an der Vergegenwärtigung der Zeit der Naziverbrechen und an der Sichtbarmachung der skandalösen Nichtbewältigung dieser seit Langem maßgeblich mitarbeitet, ist Götz Aly. Die Liste seiner Veröffentlichungen ist lang. Viele seiner Bücher sind in Lizenzausgaben auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen. Jetzt hat er seiner reichen Publikationsliste ein neues, wichtiges Buch hinzugefügt. Darin sind öffentlich gehaltene, bisher nicht in Buchform publizierte Beiträge gesammelt, die der 1947 in Heidelberg geborene Autor in den letzten Jahren verfasst hat. In ihnen greift der Autor die Themen auf, über die er in den letzten Jahrzehnten gearbeitet hat. Sie beziehen sich jeweils auf einen konkreten Anlass oder auf den konkreten Ort einer Gedenkveranstaltung. Sie zeugen von rhetorischer Brillanz und sind historiografische Kostbarkeiten, deren Gehalt die ganze Ernsthaftigkeit und Genauigkeit aufzeigen, mit der Götz Aly arbeitet.

2019 hielt er auf Einladung des Präsidenten des Thüringer Landtags, Christian Carius (CDU), die Rede zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar, dem Tag der Befreiung des KZ und des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Amree. In ihr setzte er sich unter dem Titel »1945: Die Zwangsbefreiung der Deutschen« unter anderem mit der AfD, insbesondere mit deren Landesvorsitzenden Björn Höcke auseinander und erinnerte daran, dass »in Thüringen der Nationalsozialismus bekanntlich nicht zwölf, sondern 15 Jahre gedauert hat. Mit einer Unterbrechung stellte die NSDAP hier seit dem 23. Januar 1930 den ersten nationalsozialistischen Minister, den späteren Reichsinnenminister Wilhelm Frick, und Ende August 1932 wurde Gauleiter Fritz Sauckel … zum Chef der Landesregierung gewählt«.

Als Bundespräsident Frank Walter Steinmeier zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion auf einem der drei großen Berliner Ehrenfriedhöfe für die gefallenen Sowjetsoldaten einen Kranz niederlegte, berichtete Aly darüber in der »Berliner Zeitung«. Er erinnert daran, dass deren Kampf gegen Nazideutschland unsere Befreiung ermöglichte und schloss folglich mit den Worten: »Die Helden der Sowjetunion sind auch unsere Helden.«

In einer Predigt in Darmstadt wiederum kam er auf die von den Nazis geweihten Kirchenglocken zu sprechen und mahnte die Gemeinde: »Lass uns das Böse im Guten erkennen und das nur scheinbar Gute im Bösen.« An einem früheren 27. Januar, im Jahr 2016, hielt Aly die Gedenkrede auf der auswärtigen Plenarsitzung des Landtages von Rheinland-Pfalz in der Rheinhessen-Fachklinik, vormals Heil- und Pflegeanstalt Alzey. Hier wie anderswo hatten die Nazis ihre systematischen Euthanasiemorde an Behinderten und Geisteskranken durchgeführt. Aly ermittelte: »Die deutsche Justiz beschäftigte damals 1200 Vormundschaftsrichter. Auch sie bekamen urplötzlich und gleichzeitig sehr ähnlich lautende Sterbeurkunden auf den Tisch. Nur einer protestierte und sprach von Mord: Lothar Kreyssig, Richter in der Stadt Brandenburg. Er wurde bei vollen Bezügen beurlaubt und die Maschinerie lief ungestört weiter. Kreyssig gründete 1958 die Aktion Sühnezeichen.«

Eine »postnazistische Hetze« gegen die Familie der Schriftsteller Thomas und Heinrich Mann in der »FAZ« von 1950 wurde von ihm akribisch seziert. Aly zitiert daraus ungeheure Sätze wie »Thomas Mann tritt uns als Exponent einer bis zur Dummheit gehenden Abneigung gegen Deutschland entgegen.« Die jahrzehntelange Verhinderung einer Übersetzung von Raul Hilbergs Buch »Die Vernichtung der europäischen Juden« macht in seinen Augen überdeutlich, wie zögerlich eine Aufarbeitung der Nazizeit in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik erfolgte. Immer wieder kommt Aly auf die in der Bundesrepublik bis heute gar nicht oder wenig anerkannte Bewältigungsarbeit in der DDR zu sprechen. Der Autor stellt als Beispiel für diese Ostberliner Straßennamen zusammen. Da finden sich unter anderem die Geschwister Hans und Sophie Scholl, Kurt Tucholsky, Marie Curie, Dietrich Bonhoeffer, Alfred Döblin, Anne Frank und Moses Mendelssohn.

In der Einleitung zu seinem Buch unter dem Titel »Im Irrgarten deutschen Gedenkens« schreibt Götz Aly: »Spätestens in vier Jahren, also an meinem 80. Geburtstag, möchte ich damit aufgehört haben, mich mit KZ-Wärterinnen, neudeutschen Rechthabern oder postfaschistischen Höckes zu beschäftigen.« Darin drückt sich wohl vor allem die Hoffnung aus, dass eine ehrliche und schonungslose Aufarbeitung der NS-Vergangenheit endlich Selbstverständlichkeit geworden ist.

Götz Aly: »Unser Nationalsozialismus«. Reden in der deutschen Gegenwart. S. Fischer, 301 S., geb., 25 €.

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