Gänsehaut im Theaterbunker

Ein falsches, von Mitleid getriebenes Kunstverständnis zeigt sich hierzulande besonders im Umgang mit dem Krieg in der Ukraine

  • Ioannis Dimopulos
  • Lesedauer: 4 Min.
Hat trotz Protest Ende Februar in Konstanz gelesen: Der russische Schriftsteller Vladimir Sorokin, hier im Literaturhaus Zürich 2022.
Hat trotz Protest Ende Februar in Konstanz gelesen: Der russische Schriftsteller Vladimir Sorokin, hier im Literaturhaus Zürich 2022.

An einem deutschen Theater wird das Publikum eingeladen, etwas Besonderes zu erleben. Über Nacht wird man in das Theater eingeschlossen, um zu erfahren, wie es sich anfühlt, in einem Bunker auszuharren. Durch Kriegsgeräusche und Performances ukrainischer Kunstschaffender soll »der Ausnahmezustand erfahrbar« gemacht werden. Nachdem man sich die Nacht um die Ohren geschlagen hat, rundet ein gemeinsames Frühstück die »Aufführung« ab. Es klingt zutiefst makaber, was vor einigen Wochen im Thalia-Theater in Hamburg stattgefunden hat. Eingeladen wurde zur »Bomb Shelter. Art Resistance Night« des ukrainischen Regisseurs Vlad Troitskyi – dankbarerweise nur ein Gastspiel. Der Versuch, das Leid der ukrainischen Bevölkerung theatral zu vermitteln, sollte mündige Besucher eher dazu animieren, sich über das Mitleid und seine gesellschaftliche Einbindung Gedanken zu machen.

Stattdessen ist die Erregung von Mitleid oft zu einem Indikator gelungener Kunst geworden. In diese Kerbe schlugen neulich auch ein paar ukrainische Aktivisten in Konstanz: Das dortige städtische Theater hatte zum Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine neben einer Mehrzahl ukrainischer Künstler auch den im Exil lebenden russischen Künstler Vladimir Sorokin eingeladen, der einer der wichtigsten intellektuellen Widersacher Putins ist. Vorgeworfen wurde dem Theater Konstanz dann, auf Kosten der ukrainischen Bevölkerung das Buch eines russischen Autors zu bewerben. Die Aktivistin Diana Kostenko schrieb in einem offenen Brief: »Unabhängig davon, wovon dieses Buch handelt, benutzt das Theater ukrainische Opfer und Tote, um die Popularität russischer Kultur noch weiter zu stärken.«

Interessant ist an Kostenkos Satz vor allem die eingestandene Irrelevanz und Unkenntnis des spezifischen Kunstwerks, als auch die Verkennung der momentanen Sicht auf Russland, die in Deutschland dezidiert negativ ist. Ohne das Buch zu kennen, behauptet sie auf Grundlage der nationalen Zugehörigkeit des Künstlers zu Russland eine Instrumentalisierung der ukrainischen Opfer. Dass man das durchaus eine rassistische Position nennen kann, ist die eine Sache. Scheinheilig wird es in dem Moment, in dem man berücksichtigt, dass deutsche Kulturinstitutionen seit Kriegsbeginn eher darum bemüht waren, die katastrophale Situation in der Ukraine dadurch zu verwerten, dass man sich gar nicht genug ukrainische Künstler ins Haus holen konnte. Durch den Krieg in der Ukraine profitieren vor allem ukrainische Künstler, nicht russische. Letztere werden, nachdem sie seit Jahrzehnten versucht haben, mehr zu sein als Wodka trinkende Putin-Freunde, zu denen man sie in Deutschland lang genug gemacht hatte, sukzessive aus deutschen Einrichtungen entfernt.

Der Versuch, Sorokins Lesungen in Deutschland zu canceln, entspringt einer falschen Hierarchisierung von Leiderfahrungen. War es immer falsch, individuelles Leiden gegeneinander aufzuwiegen, findet sich in den momentanen Kulturkämpfen eine Entwicklung hin zu einem Leidensbegriff, der sich nur über die nationale beziehungsweise kollektive Zugehörigkeit versteht. Dass russische Intellektuelle aus den Programmen deutscher Kulturbetriebe schwinden, fußt auf einer Haltung, die Leid zu einem Privileg und Vorteil erklärt. Dabei wird nicht darüber nachgedacht, dass es auch außerhalb bestimmter Opfergruppen zur Produktion von Leid kommt, etwa wenn russische Kriegsverweigerer aus der Rechnung gestrichen werden. Russischen Intellektuellen die Erfahrung von Leid abzusprechen – sie gar zu Tätern zu machen –, lässt sich in diesem Zusammenhang erst aus der Funktionalisierung des Mitleids verstehen, die die militärische Unterstützung der Ukraine legitimieren soll. Leiderfahrungen verfügen so nur noch entindividualisiert über Bedeutsamkeit.

Dass Leid nicht mehr ausgehend vom Subjekt gedacht wird, sondern von abstrakten Kollektiven, erklärt einige der gegenwärtigen Tendenzen des deutschen Kulturbetriebs. Denn in dem Moment, in dem Leid keine individuelle Erfahrung mehr ist, kann der Luftschutzbunker zum artifiziellen Spektakel werden. Erfahren wird, wenn man nach dem Geräusch von eingespielten Bomben am frühen Morgen unterhalten und betroffen nach Hause an den heilen Frühstückstisch zurückkehren darf, nur die eigene Selbstgefälligkeit.

Das Mitleid für die prekäre Situation in der Ukraine und mitleiderregende Kunst sind zweierlei. Letztere ist nichts Emanzipatorisches, geschweige denn politischer Aktivismus über die Signalisierung von Betroffenheit hinaus. Schon Bertolt Brecht hat sich mit dem Mitleid in der Kunst beschäftigt: Sein Episches Theater entspringt vor allem der Kritik des Mitleids in der klassischen Tragödie und des bürgerlichen Trauerspiels. Brecht zufolge ist das Mitfühlen mit den Figuren auf der Bühne ein Motor der Entpolitisierung. In der emotionalen Erregung und der theatralen Aushandlung derselben würden genau die Bedingungen des Leids, die für Brecht stets gesellschaftlich produziert sind, unterschlagen. Mitleid animiere nicht zum politischen Aktivismus, sondern werde auf der Bühne – sozusagen in einem abgesteckten Rahmen – erweckt und dadurch in die Grenzen des Theaters gebannt. Diesem Mechanismus stellt Brecht eine kritische Distanzierung entgegen, die die Gemachtheit und damit die Veränderbarkeit der prekären Verhältnisse offenbart.

Es ist also die Brechung der illusionären Grenzen zwischen Theater und Wirklichkeit, die zur Erkenntnis der gesellschaftlichen Deformation von Individuen führt. Heute, wo das Publikum oft gar nicht genug Mitleid empfinden kann, scheint sich Brechts Kritik erneut zu bewahrheiten. Gefühlsduselig herumzusitzen und die angebliche Unmittelbarkeit von Gefühlen bei einem Glas Wein zu bestaunen, ist bürgerliche Heuchelei. Es bezeugt das Desinteresse für das reale Leiden und seine Gemachtheit.

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