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Die Datensammler der Fußball-Bundesliga
Westliche Klubs und ihre Dienstleister auf den Philippinen. Ein Besuch
Manchmal gibt es Tage, sagt Ashley Flores, da ertrage er diesen Job einfach nicht. »Dann sage ich mir: Ich kann das nicht. Warum muss ich mir das ansehen!« Das Fußballspiel, das da vor seinen Augen auf dem Monitor läuft, hält er alle paar Sekunden an, um nach jedem Pass, Zweikampf oder Torschuss sofort eine Bewertung in die Bildschirm-Maske einzutragen: Fehlpass, gelungenes Dribbling, Schuss neben das Tor. Dann geht es weiter. Und der Mann am Computer denkt sich, er selbst hätte das besser gekonnt.
»Ich bin jetzt 29«, erklärt Ashley Flores und blickt von seinem Bildschirm durchs Büro zur Fensterwand. Draußen ist es dunkel, Wolkenkratzer leuchten durch den Abend. »Ich spiele ja selbst Fußball, ich bin Kapitän.« Der Außenspieler von Mendiola FC, einem philippinischen Erstligisten, ist zwischen 2015 und 2017 sogar für die philippinische Nationalmannschaft aufgelaufen. In anderen Worten: Ashley Flores gehört zu den besten Fußballern seines Landes.
Weil auf den Philippinen aber die meisten Topspieler von ihrem Sport kaum leben können, setzt sich Flores abends nach dem Training an diesen Computer in einem Büroturm im Zentrum von Manila und sieht sich dann andere Spiele an. Heute eines aus den USA, zwischen LA Galaxy und Los Angeles FC aus der Major League Soccer – eine Begegnung, die nicht gerade zu seinen Favoriten zählen würde. »Das hier ist für mich Notwendigkeit, mein Broterwerb. Das Spiel hier muss ich gerade auswerten. Das ist schon harte Arbeit.« Flores verdient sein Geld mit dem Erheben von Fußballdaten.
Der Kunde ist ein großer europäischer Klub, der Statistiken wünscht: über Stärken und Schwächen diverser Spieler aus anderen Ligen. Wie rund 120 weitere Mitarbeiter arbeitet Flores in einem Wachstumsmarkt. Schon länger setzt der Profifußball allein in Deutschland jährlich mehrere Milliarden um. Und damit Klubs das eigene Abschneiden sowie ihre Gegner genauer analysieren, außerdem ein bestmöglich informiertes Scouting für Verpflichtungen neuer Spieler betreiben können, wird der Fußball immer genauer vermessen. Ballbesitzanteile, Zweikampf- und Passquoten reichen nicht mehr aus.
»Jede Szene wird ausgewertet. Dabei müssen sieben, acht Parameter bedacht werden«, sagt Thomas Viess, ein legerer Typ Mitte 30, der in Manila das Start-up »Packing Sports Corporation« leitet. »Eines der bekanntesten statistischen Merkmale ist der Packingwert«, so Viess. »Er beschreibt, wie viele Gegenspieler durch eine offensive Aktion überspielt wurden. Umgekehrt gilt das auch für die Verteidigung bei der Balleroberung.« Die Aufgabe von Ashley Flores und seinen Kollegen ist es, solche Werte zu erheben: Spielszenen ansehen, überspielte Spieler zählen, Wert in die Maske eingeben.
Die statistische Kennzahl des Packingwerts machte erstmals während der EM 2016 Schlagzeilen. Kurz zuvor hatten die Ex-Profis Stefan Reinartz und Jens Hegeler das Kölner Unternehmen Impect GmbH gegründet, das die Daten dann erhob. Anfangs erledigten diese Jobs noch Studierende. Das sei aber nicht mehr zu stemmen, so Lukas Keppler, Geschäftsführer von Impect: »Wir arbeiten aktuell mit rund 45 Klubs zusammen, hauptsächlich im deutschen Markt. Bayern München, Dortmund oder Leverkusen … Das geht aber auch runter bis in die 3. Liga.«
Zudem zählen einige internationale Topklubs zu den Kunden von Impect, derzeit bemüht sich der Betrieb, in Europa weiter zu wachsen. Auf dem umkämpften Markt spielen allerdings zusehends Kosten eine Rolle, berichtet Keppler per Videogespräch aus Köln. So hat Impect 2018 die »Packing Sports Corporation« gegründet, die seither die Daten bereitstellt – und dies eben aus den Philippinen, einem Land, das nicht gerade für seine Fußballkultur bekannt ist.
Dennoch gebe es für die Datenerhebungen kaum einen besser passenden Standort, sagt Thomas Viess, während er durch die modernen Büros voller Computer und bequemer Sessel führt. Denn einerseits haben sich die Philippinen auf das Outsourcing von Geschäftsprozessen spezialisiert. Wegen der überwiegend englischsprachigen Bevölkerung und der guten Digitalinfrastruktur unterhalten etliche Konzerne aus diversen Branchen in kaum einem Land so viele Callcenter wie hier. »Und dann ist da noch die Zeitzone«, erklärt Viess. »Wenn in Europa am Abend oder am Nachmittag gespielt wird, können wir hier auf den Philippinen mit sechs oder sieben Stunden Zeitunterschied die Daten den Kunden dann am nächsten Morgen bereitstellen.« Dies sei einer der wichtigsten Gründe. Aber: »Es ist natürlich klar, dass das ein sehr arbeitsintensiver Prozess ist, all diese Daten zu erheben. Und damit muss man natürlich auch sagen: Das ist dann irgendwo auch ein finanzielles Thema.«
Theoretisch könnten solche Statistiken zwar bereits automatisch erhoben werden. Ökonomisch sei dies unter den aktuellen Umständen aber kaum. Denn da die Aufnahmebilder der zu quantifizierenden Spiele meist aus TV-Kameras gespeist werden, besteht kaum Einheitlichkeit. Je Stadion variiert die Höhe der Kameras und damit deren Perspektive auf das Spielfeld, sodass eine automatische Auswertung teuer wäre, so Thomas Viess, da die Software immer wieder neu angepasst werden müsste.
Der Mindestlohn in Manila dagegen beträgt derzeit 537 Philippinische Pesos pro Tag – rund 9,30 Euro. Packing Sports bezahle 30 bis 40 Prozent mehr, zudem ein 13. Monatsgehalt. Auch deshalb – neben der Armut auf den Philippinen – erfreue man sich einer guten Bewerberlage. Zumal nicht jeder hier das manchmal schwere Los von Ashley Flores hat, selbst auf hohem Niveau Fußball zu spielen und über einige Aktionen auf dem Platz den Kopf zu schütteln. Viele Kollegen freuen sich darüber, für das Fußballschauen bezahlt zu werden.
Und meistens kann auch Ashley Flores – neben dem Geld – diesem Job etwas abgewinnen, sagt er: »Ich bin selbst auch noch lizenzierter Trainer. Das Ganze ist also auch dafür interessant. Als Trainer ist man es ja gewohnt, gute und schlechte Dinge anzusehen und daraus Lehren zu ziehen. Ich lerne viel.« Dabei gelte dies nicht nur für ihn als Trainer: Auch als Spieler habe er schon einiges von den Besten, die er sich jeden Tag ansieht, gelernt.
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