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  • Hörspiel »Vampir Haarmann«

Der tödliche Biss

Wie macht man ein Hörspiel über den berühmten Serienmörder Fritz Haarmann?

  • Jan Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

Ein klassischer Plot für ein Haarmann-Hörspiel, eines also über Deutschlands schlimmste Mordserie: Es erstreckt sich im Wesentlichen vom Beginn des Gerichtsprozesses gegen Fritz Haarmann am 4. Dezember 1924 über die Veröffentlichung von Theodor Lessings Haarmann-Buch (»Die Geschichte eines Werwolfs«) bis zur Hinrichtung des Serienmörders am 15. April 1925.

Im Juni 1924 wurde Haarmann als der mutmaßliche Täter einer schrecklichen Mordserie in Hannover verhaftet. In den Verhören nannte er seine Opfer – mindestens 27 männliche Jugendliche, die er beim Liebesakt erwürgt hatte – abwertend »Puppenjungen«, also jugendliche Stricher, die sich ihr Schicksal selbst gewünscht hätten.

Hauptfigur im Hörspiel ist neben Haarmann der Philosoph und Schriftsteller Theodor Lessing, hier in der Rolle eines Journalisten. Er besucht den Haarmann-Prozess, um ein Buch darüber zu schreiben, er berichtet seiner Frau Ada von den Erlebnissen im Gericht, und er ist beim Verfassen des Buches zu hören, das er abends nach den Sitzungstagen schreibt, es wird kurz vor Haarmanns Hinrichtung erscheinen.

Er und die anderen drei Figuren lesen außerdem szenisch angereichert aus den Protokollen des Gerichtsprozesses vor, hierzu sind sie bis auf Haarmann in anderen Rollen zu hören, da sie ja nicht selbst am Prozess teilnahmen. Lessing, der noch mehr über Haarmann herausfinden will, landet in einer Nebenhandlung außerdem einen journalistischen Coup: Er trifft während des Prozesses heimlich Haarmann im Hannoveraner Gerichtsgefängnis, was ihm über einen Gefängniswärter gelingt, dessen Eltern einst Patienten seines Vaters waren. Lessing senior war nämlich ein in ganz Hannover bekannter Arzt, der bedürftige Patienten mitunter kostenlos behandelte. So verbrachte Lessing als Kind gelegentlich als Gegenleistung für dessen Behandlungen Sommerfrischen im Hannoveraner Umland, auch auf dem Bauernhof, der den Eltern des Gefängniswärters gehörte.

Die beiden waren als Kinder demnach Spielkameraden, das kann Lessing jetzt ausnutzen. Auch wünscht sich Haarmann, der vom ungewöhnlichen Prozessbeobachter Lessing Wind bekommen hat, seinen Besuch, da er sich vom öffentlichen Einfluss des stadtbekannten Intellektuellen ein milderes Urteil erhofft. Lessing verkleidet sich dazu als Gefängniswärter, wird in Haarmanns Zelle eingeschleust, aber der hält ihn in seiner wahnhaften Angst für einen Wachtmeister, der ihn erneut gewaltsam verhören will, er denkt sogar, dass Lessing ihn zu seiner Hinrichtung führen will.

Was Haarmann dem falschen Wachtmeister dann sagt, ist, nur in mehrere Abschnitte aufgeteilt, mein Prosatext »haarmann ruh«, ein innerer Monolog des Massenmörders während dieser Haft, er soll immer wieder kurz im Hörspiel aufblitzen, sodass er sich wie eine düstere Sprachfläche über das Geschehen legt. Das sind die zentralen Handlungsstränge des Hörspiels, hinzu kommt noch eine Nebenhandlung mit Hindenburg und ein Zeitsprung hin nach 1933.

Der Mörder Fritz Haarmann ist in die Kriminalgeschichte eingegangen. Er gilt als besonders verschlagen, als Verbrecher, der seine Popularität als Schreckenstäter sichtlich genoss – das wird mit meinem Prosatext, in dem ein Schizophrener spricht, konterkariert. Die Kluft zwischen beiden Haarmanns erwähnt Lessing auch gegenüber seiner Frau, ebenso die dubiose Rolle des Gerichts, dem es vor allem darum ging, den Fall möglichst schnell und lautlos abzuwickeln, indem man Haarmann als isolierten Außenseiter darstellte, sein schillerndes Sexualleben genauso wenig beleuchtete wie seine Rolle als gut vernetzter Spitzel der Hannoveraner Polizei. Was Lessing in begleitenden Zeitungsartikeln aber immer wieder einfordert, deshalb schließt ihn der Richter vier Tage vor Urteilsverkündung vom Prozess aus: »Wir können hier keinen Herren dulden, der Psychologie betreibt.«

Haarmann wird am 19. Dezember 1924 zum Tod verurteilt, es vergehen jedoch weitere vier Monate bis zu seiner Hinrichtung im Hof des Hannoveraner Gerichtsgefängnisses (durch Enthaupten mit dem Fallbeil), die ebenfalls Teil der Handlung sind – welche dann mit Haarmanns Hinrichtung vorerst endet, auch mein Prosatext bricht hier mitten im letzten Satz Haarmanns ab. Lessing erzählt seiner Frau noch, dass ein Ministerialrat im preußischen Justizministerium Haarmanns Kopf dem Kraepelin’schen Hirnforschungsinstitut in München überlassen hat, wo man bald herausfinden wird, dass Haarmann eine Hirnhautentzündung durchgemacht hatte, was zu erheblichen Wesensveränderungen führen kann. Und Lessing hat zehn Tage nach der Hinrichtung ein hitziges Treffen mit dem ehemaligen Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg. Dann kommt lediglich noch der Zeitsprung hin nach 1933.

Hauptsächliches Material des Hörspiels ist Lessings Buch »Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs«, aus dem immer wieder zitiert wird. Es erregte damals große Aufmerksamkeit, nicht zuletzt weil es die zweifelhafte Rolle der Hannoveraner Polizei in diesem Fall öffentlich machte: Haarmann war also ihr Spitzel, seine Geständnisse wurden von den Behörden teilweise mit Gewalt erpresst. Das Buch brachte Lessing Ärger ein, man wollte ihm deshalb erstmals seine Professur für Philosophie an der Technischen Hochschule Hannover entziehen, auch hier war öffentliches Engagement nicht gefragt.

Kurz nach Haarmanns Exekution begann für Lessing dann der Fall Hindenburg, ein noch bedrohlicherer Streit um einen Zeitungsartikel von ihm, über den Exmilitär, der sich in diesem April 1925 als Reichspräsident zur Wahl stellte. Im »Prager Tagblatt« schrieb Lessing über Hindenburg, dieser erscheine zwar als ein harmloser »Zero«, doch die Geschichte lehre, »dass hinter einem Zero immer ein künftiger Nero verborgen steht«. Ausgehend von den Fällen Haarmann und Hindenburg kam es zu einer jahrelangen Hetzkampagne gegen Lessing, die schließlich in seiner Ermordung gipfelte, was mit dem Zeitsprung erzählt werden soll: Lessing diktiert Ada am 31. August 1933, seinem Todestag, in ihrem Exil in der Tschechoslowakei ein zweites Buch über Haarmann, er will damit sein erstes Buch von 1925 angesichts des Faschismus aktualisieren, nun sieht er ja klarer, wohin Haarmann und seine Gesellschaft führten. Er macht eine Schreibpause, holt etwas aus dem Keller der Villa Edelweiß in Marienbad, in der Ada und er leben. Dort unten trifft er Haarmann, das bildet er sich jedenfalls ein, er leidet aufgrund der jahrelangen Hetzjagden gegen ihn an Verfolgungswahn.

Bis vor wenigen Tagen bewachte noch die tschechoslowakische Polizei ihre Wohnung, doch vom kürzlich erfolgten Umzug der Lessings in die Villa Edelweiß hat sie nichts mitbekommen, auch nicht davon, dass eine sudetendeutsche Zeitung gerade behauptete, die deutsche Regierung zahle jedem ein Kopfgeld, der Lessing umbringe. Haarmann pfeift im Keller ein Lied, er tritt auf Lessing zu, warnt den Philosophen davor, weiter über ihn zu schreiben, ihn nicht ruhen zu lassen (»haarmann ruh«), in seinem Arbeitszimmer warte sonst Schreckliches auf ihn. Er verrät Lessing, dass seine Mörder soeben eine Leiter an die hintere Hauswand stellen, um ihn durch die Fenster seines Arbeitszimmers zu erschießen. Lessing glaubt ihm nicht, er geht nach oben. Haarmann pfeift wieder sein Lied und entfernt sich, einer der Mörder klettert die Leiter hoch, während er nun Haarmanns Lied pfeift.

Als Lessing, jetzt ohne Ada, in seinem Arbeitszimmer sein Buch mit den Namen aller 27 bekannten Haarmann-Opfer samt ihrem Alter, wie sie auf dem Sammelgrab für sie im Stöckener Friedhof in Hannover zu lesen sind, fortsetzt, geht er zwischendurch kurz zu seinem Sekretär, um ein anderes Manuskript zum Frankieren fertigzumachen. Da fallen Schüsse, Fensterglas splittert, Lessing liegt schwer verletzt am Boden, wenige Stunden später stirbt er im Krankenhaus. Man tötete hier nicht nur einen Aufklärer und Juden, sondern verhinderte so auch eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Fall Haarmann, die vielleicht bis heute nicht erfolgt ist, und man kündigte mit dieser Bluttat den Wahnsinn des Faschismus an. So erscheint der Mord an Lessing in meinem Hörspiel wie von Haarmann als einem Vorboten des »Dritten Reichs« beauftragt.

Mein Vorteil: Ich kenne den Fall gut, habe mich bereits literarisch mit ihm beschäftigt. Und ich kenne und schätze Lessings Buch, es inspirierte mich ja zu meinem Prosatext. Die Kleinkriminellenszene damals in Hannover halte ich für einmalig schillernd: Durch die Hyperinflation der frühen 1920er Jahre und eine erodierende Nachkriegsgesellschaft konnten sie recht unbehelligt hehlen und morden, vor allem Haarmann als Spitzel der Polizei konnte es, der offenbar nur über seine eigene Dummheit und Maßlosigkeit stolperte. Ich kenne auch die Schauplätze des Hörspiels gut, habe vier Jahre lang in Hannover gelebt.

Statt Haarmann als »Werwolf« (Theodor Lessing) oder »Totmacher« (Film von Romuald Karmakar) will ich den Vampir Haarmann zeigen, der seinen Opfern die Halsschlagader durchbiss, sich an fremdem Blut berauschte. Er brauchte den tödlichen Biss als ultimativen sexuellen Kick. Heute wissen wir, dass derartige Beißspiele zu einer Ausprägung des Sexuellen gehören, die wir sogar tolerieren, solange sie einvernehmlich geschieht und nicht zu krasser Gewalt führt. Aber dazu war Haarmann natürlich nicht willens.

Am Samstag, dem 8. April, läuft auf SWR2 um 19.05 Uhr die Ursendung des Hörspiels »Vampir Haarmann« von Jan Decker.

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