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Migration in Mexiko: In der Sackgasse
Am Grenzzaun zu den USA endet für viele Flüchtende der amerikanische Traum
Das große Gebäude aus sandfarbenem Naturstein liegt direkt neben einer Grenzbrücke in die USA. Auf der Hinterseite der rostroten Mauer ist der Sitz der Migrationspolizei verrußt. »Es war ein Staatsverbrechen«, sagt Juan Ángel Pavón aus Venezuela. Sie haben eine Mahnwache aufgeschlagen, um Gerechtigkeit zu fordern. Ein paar Dutzend Familien kampieren nun zwischen dem Rathaus und der Migrationspolizei auf Matten und in Zelten. Einige Freiwillige malen mit Kindern an einem Klapptisch. »Mexiko braucht ein Migrationsgesetz, das uns schützt und unsere Sicherheit garantiert«, fordert Pavón. Für 40 Menschen aus verschiedenen mittel- und südamerikanischen Ländern kommt diese Forderung allerdings zu spät. Sie erstickten am vergangenen Montagabend bei einem Feuer im Abschiebegefängnis der mexikanischen Grenzmetropole Ciudad Juárez.
Der Kaufmann aus Venezuela hat vor zwei Jahren sein Land verlassen. Die vier vergangenen Monate hat er mit seiner Frau und zwei Töchtern am Grenzfluss gecampt, in verlassenen Häusern und heute wieder hier auf der Straße. »Hätten wir eine Aufenthaltsgenehmigung, Arbeit und einen würdigen Platz zum Schlafen, dann würde ich mich in Mexiko niederlassen.« Sie könnten weder vor noch zurück, erzählt er, seien ein Spielball zwischen korrupten Polizeibeamten, Schleusern, die den Kartellen angehören, und der US-amerikanischen Asylbehörde, die gerade auf eine App beschränkt ist, die zwei Minuten am Tag zugänglich ist. »Dort kann ich aber keinen Termin für meine Familie beantragen, sondern nur für mich selbst.« Und die Vorladung ist dann vielleicht in Matamoros, Hunderte Kilometer entfernt.
Währenddessen kommen täglich immer mehr Menschen aus dem Süden an der Grenze an. Und jeden Tag werden noch mehr von der US-Grenzpolizei wieder nach Mexiko abgeschoben. Erst im Mai soll das gesundheitspolitische Dekret 42 zurückgenommen werden, das seit dem Einsetzen der Corona-Pandemie die Forderung nach Asyl in den USA so gut wie unmöglich macht. Die mexikanischen Grenzstädte stehen vor der Herausforderung, mit der humanitären Krise umzugehen. »In Ciudad Juárez stehen wir seit Wochen auf der Straße«, berichtet Ángel Pavón. Die Stimmung sei zunehmend rassistisch geworden, Ressentiments seien von der Stadtregierung noch geschürt worden. Immerhin habe die Tragödie von letzter Woche ihnen wenigstens »eine Verschnaufpause« gegeben. Nach dem Brand im Abschiebegefängnis ließ Präsident Andrés López Obrador Ermittlungen einleiten. »Seitdem gibt es keine Razzien von Migrationspolizei und Lokalpolizei mehr in der Stadt«, erzählt er. »Man lässt uns in Ruhe.«
Im Zentrum der Ermittlungen stehen Verantwortliche bei der Migrationspolizei und den Behörden vor Ort. Über die Geschehnisse vom 27. März bleiben wenige Zweifel, seit ein Video der Überwachungskameras an die Presse gelangt ist. Auf diesem schlagen Flammen aus der Zelle; ein Mann ist hinter der Gittertür zu erkennen. Drei Uniformierte verlassen zügig, aber ruhig den Vorraum. Keiner von ihnen macht Anstalten, die Zelle aufzuschließen. Kurze Zeit später ist die Rauchentwicklung so heftig, dass sie die Sicht der Kamera versperrt. Erst die eintreffende Feuerwehr wird die Zellentür aufbrechen und 44 Tote sowie 26 Bewusstlose aus dem fensterlosen Raum des Abschiebegefängnisses bergen.
Die Betroffenen waren am selben Tag bei Razzien auf den Straßen der Stadt aufgegriffen worden. Wahrscheinlich haben die Eingesperrten selbst ein Feuer entfacht, um gegen ihre Haft zu protestieren. Die Bedingungen der Abschiebegefängnisse in Mexiko werden seit Jahrzehnten von Nichtregierungsorganisationen angeprangert. Vor zwei Jahren konnte erreicht werden, dass keine Minderjährigen mehr eingesperrt werden dürfen.
»Mit den Festnahmen sollte das Stadtbild von Ciudad Juárez gesäubert werden«, erklärt Pater Javier Calvillo, Leiter der Migrant*innenherberge Casa de Migrante. Nun sei die Metropole angesichts der Tragödie aber in der ganzen Welt in den Medien. »Rassismus und ein fehlender Wille auf allen politischen Ebenen, eine sich anbahnende humanitäre Krise zu vermeiden«, hätten es soweit kommen lassen, meint der Pater. Es habe an diesem Tage schlimme Kommentare in den sozialen Medien gegeben und Menschen, die bei den Festnahmen applaudierten.
»Ich hoffe, dass die Kommentatoren jetzt sehen, wohin der Druck geführt hat, den sie auf die Stadtregierung ausgeübt haben. Die Opfer sind tot oder liegen im kritischen Zustand im Krankenhaus«, seufzt Pater Calvillo, der seit 18 Jahren das Casa de Migrante in Ciudad Juárez leitet. Lange war es die einzige Herberge für Migrant*innen in der Stadt, heute gibt es zwei Dutzend solcher Häuser, und es bräuchte noch viele mehr. Pater Calvillo schüttelt den Kopf. »Wir haben mit den Frauen der Männer gesprochen, die inhaftiert wurden. Viele von ihnen hatten eine Aufenthaltsgenehmigung in Mexiko und hatten sogar eine Arbeit. Es gab überhaupt keine Rechtfertigung, sie einzusperren und mit einer Abschiebung zu drohen.«
Dabei erleben die Menschen in Ciudad Juárez an der Grenzmauer zu den USA Migration schon lange. Seit fast einem halben Jahrhundert ist sie um das Vielfache durch den Zuzug aus dem Süden angewachsen. In den Weltmarktfabriken an der Grenze gibt es Arbeit, und der amerikanische Traum ist hier tatsächlich nur einen Katzensprung entfernt. Seit die Vereinigten Staaten unter Ex-Präsident Donald Trump das Asylrecht eingeschränkt haben und es in der Pandemie ganz aushebelten, stranden immer mehr Menschen in der Grenzmetropole oder werden in diese abgeschoben. Im Winter lagerten sie zu Hunderten am Río Bravo, in der Hoffnung auf einen politischen Wechsel. Doch Präsident Joe Biden ließ die Nationalgarde aufmarschieren und die Stadtregierung von Juárez ließ die Camps räumen. »Venezolanische Geflüchteten baten uns damals, mit dem Bischof zu sprechen«, erzählt Pater Calvillo. »Sie sagten uns: ›Wir sind durch so viele Länder gereist, aber nirgendwo ist uns so viel Korruption und Gewalt widerfahren wie in Mexiko.‹«
Seit der Räumung der Lager sind die Familien auf den Straßen präsent. An den Verkehrskreuzungen der mehrspurigen Boulevards betteln Männer und Frauen mit kleinen Kindern im Arm. Sie haben auf Schilder geschrieben, dass sie aus Venezuela kommen, oder halten die gelb-blau-rote Flagge ihres Landes den Autofahrer*innen entgegen. Ihre Armut steht ihnen ins Gesicht geschrieben, es sind magere Gestalten in abgenutzter Kleidung. Im Zentrum der Stadt, wo immer noch viele Häuser aus den Zeiten des Drogenkrieges und der militärischen Besetzung verlassen sind, haben sie sich notdürftig in den Ruinen eingerichtet.
Mittlerweile sollen es 12 000 Menschen in Ciudad Juárez sein, die eigentlich in die USA einreisen wollen. Wer keinen Zugang zu den völlig überfüllten Herbergen hat, dem bleibt nur die Straße. Sie verbringen ihre Tage an den Ampeln, putzen Windschutzscheiben. Doch die Ablehnung gegen sie spitzt sich in der Stadt immer weiter zu. »Dabei sind es Geflüchtete aus Mittel- und Südamerika, die ohnehin von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen betroffen sind«, berichtet Pater Oscar Enríquez, der das Menschenrechtszentrum Paso del Norte leitet.
Seine Organisation dokumentiert die Aussagen vieler Migrant*innen, die von der Lokalpolizei verschleppt, in verlassenen Lagerhallen gefoltert und mit dem Tode bedroht werden, um Geld zu erpressen. Auch die Kartelle nutzen die Not aus und machen ein Millionengeschäft mit dem klandestinen Grenzübertritt angesichts fehlender legaler Möglichkeiten. »Die Familien können nicht zurück in ihre ebenso von Gewalt und Armut zerrütteten Herkunftsländer.« Pater Enríquez verfolgt, wie sich die Stimmung in der Stadt immer stärker gegen die Flüchtenden wendet. Wie Polizist*innen in die Flüchtlingsanlaufstelle unter der Kathedrale von Ciudad Juárez eindrangen und drei Venezolaner verschleppten und folterten; einer von ihnen minderjährig. Wie Menschen im Zentrum der Stadt gegen die Misshandlungen und Einschüchterungen durch Beamt*innen der Migrationspolizei demonstrierten. »Und vor zwei Wochen versuchten Hunderte verzweifelte Geflüchtete, über die Grenzbrücke Santa Fe zu stürmen und wurden von der US-Nationalgarde gestoppt.« Einen Tag später hat die Stadtregierung ein Verbot ausgesprochen, an Verkehrskreuzungen zu betteln. Und am 27. März, jenem verheerenden Datum des Brandes im Abschiebegefängnis, sollten Razzien zwischen Lokal- und Migrationspolizei dieses endlich durchsetzen.
Milord und Fredy* sind am Tag darauf in Ciudad Juárez eingetroffen. Die beiden jungen Männer aus El Salvador sind seit vier Jahren ein Paar. In ihrem Herkunftsland müssen sie die Liebesbeziehung geheim halten, weil es immer wieder Hassmorde an Angehörigen der LGBTQ-Community gibt. »Wir haben eine Höllentour durch Mexiko hinter uns«, erzählt Fredy. Sie seien Hunderte von Kilometern zu Fuß gelaufen, hätten ohne Papiere horrende Preise in Bussen bezahlt, seien ab Mexiko Stadt mit dem gefürchteten Güterzug »La Bestia« Richtung Norden gefahren. »Nur um in Reynosa von der Mafia bedroht zu werden. Sie wollten 9000 Dollar pro Person, um uns über die Grenze zu bringen.«
Sie fuhren wieder zurück und nahmen die andere Zugroute nach Ciudad Juárez. »Jetzt stehen wir hier auf der Straße. An der Mahnwache gibt es Essen und Wasser.« Sie fühlen sich vorläufig sicher. »Ich kann nicht zurück nach El Salvador«, berichtet Milord. Sein Bruder habe sich vor 15 Jahren einer der Jugendbanden angeschlossen, die eine Parallelregierung im Land bilden. »Ich bin mit ihm verwandt, habe aber nichts zu tun mit seinen kriminellen Akten.« Trotzdem sei er mit seinem Nachnamen bei der Polizei bekannt und deshalb schon mehrfach Opfer von Repression geworden. »Sie nehmen dich in deinem Bezirk fest und lassen dich im anderen wieder frei. Dort regiert aber die andere Bande, und alle aus deinem Bezirk gelten als Todfeinde.«
Nun kommt auch noch hinzu, dass Staatsoberhaupt Nayeb Bukele in El Salvador einen Krieg gegen die Jugendbanden ausgerufen hat. Jeder, der ein Tattoo hat, ist potenziell verdächtig und in Gefahr, auf der Straße verhaftet und in Haft genommen zu werden. »Unter unmenschlichen Bedingungen. Und diese sollen nun auch noch die Familienangehörigen bezahlen.« Er verdiene noch nicht einmal für sich selbst genug, um keinen Hunger zu leiden. Fredy nimmt seine Hand. Von hier aus sehen sie direkt auf die rostroten Stelen der Mauer hinter der Umgehungsstraße. Diese sowie der Betonkanal des Río Bravo sind mit in der Wüstensonne glänzendem Nato-Draht überzogen. US-Präsident Joe Biden hat vor der Wahl eine liberalere Migrationspolitik versprochen. Geändert hat sich bislang aber nichts.
*Namen von der Redaktion geändert
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