Eskalation an mehreren Fronten

Israels Regierung steht innenpolitisch unter Druck, auch die Sicherheitslage wird zunehmend prekär

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 4 Min.

Im Norden und Süden Israels heulten über die Feiertage die Sirenen, an mehreren Orten schlugen Raketen ein. Davon unbeirrt gingen in Tel Aviv nach offiziellen Angaben erneut Tausende auf die Straße, um gegen die geplante Justizreform zu demonstrieren. Denn die Wut auf die Regierung greift immer weiter um sich.

Seit der vergangenen Woche herrscht in großen Teilen des Landes erneut ein Ausnahmezustand, wie man ihn hier vom Libanon-Krieg 2006, aber auch den vielen großen und kleinen Konfrontationen mit der Hamas im Gazastreifen kennt – mit einem neuen Aspekt, den Medien und Politiker*innen schon seit Langem befürchtet hatten: Es wird nicht mehr nur von einer Seite, sondern aus vielen Richtungen geschossen. Ein Szenario, das, falls die Raketen einmal zu Tausenden statt zu Dutzenden abgefeuert würden, extreme Auswirkungen hätte: Die Opferzahlen wären wohl enorm, weil die »Eiserne Kuppel«, Israels selbst entwickeltes Raketenabwehrsystem, zwar viel abfangen kann, aber nicht alles.

Gleichzeitig wurden bei zwei Anschlägen mehrere Menschen getötet: In Tel Aviv fuhr ein Palästinenser absichtlich in eine Touristengruppe, ein Mensch starb. Im Westjordanland tötete ein Palästinenser drei Britinnen.

Mitte vergangener Woche hatten israelische Grenzpolizist*innen die Al Aqsa-Moschee gestürmt; Menschen hätten Feuerwerkskörper und Steine eingeschmuggelt, so die Begründung. Doch die Videos von Polizisten in Kampfmontur stachelten die Wut in der muslimischen Welt an.

Die Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu wirkte von den Entwicklungen überrascht und ziemlich hilflos. Mehrfach ließ man die Luftwaffe Ziele in Syrien und im Gazastreifen bombardieren. Aber gegen die Hisbollah, die für die Raketenabschüsse auf den Norden verantwortlich sein dürfte, ging man bislang noch nicht vor. Stattdessen waren zumindest die rechtsradikalen Minister in der Regierung damit befasst, zur weiteren Eskalation der Lage beizutragen.

Gegen den erbitterten Widerstand der Führung des Sicherheitsapparats setzten sie durch, dass Tausende Siedler*innen am Montag einen Marsch zur ungenehmigten Siedlung Evyatar abhalten durften, geschützt von hunderten Soldat*innen und Polizist*innen. Einige Medien sprachen sogar von bis zu 10 000 Soldat*innen, die für den Schutz eingesetzt werden müssten. Mit dabei: Polizeiminister Itamar Ben Gvir und Verkehrsminister Bezalel Smotrich, die beiden Spitzenpolitiker des Wahlbündnisses »Religiöser Zionismus«, auf dessen Stimmen Netanjahu angewiesen ist. Ben Gvir vertrat in Gesprächen die Ansicht, der Marsch sei »eine legitime Reaktion« auf die Anschläge am Wochenende.

Deutliche Worte findet indes die Opposition: Das Land sei kein Spielzeug, mit dem Minister nach Lust und Laune hantieren könnten, wetterte der Abgeordnete Elazar Stern von der zentristischen Zukunftspartei im Gespräch mit dem Nachrichtenportal Ynet. Der ehemalige Mossad-Chef Efraim HaLevy kritisierte im Armeeradio, momentan fielen die täglichen Briefings aus, in denen die Chefs des Sicherheitsapparats über relevante Vorgänge informieren. Ehemalige Mossad-Direktoren sprechen nie mit Medien, ohne dies mit ihrem ehemaligen Arbeitgeber abgesprochen zu haben. Oft geben sie dabei einen Einblick in die Stimmung bei den sonst so abgeschotteten Geheimdiensten. Bei seinem Auftritt erwähnte HaLevy offen, dass man »einzelnen Ministern« nicht vertraue. Ben Gvir und Smotrich stehen beide gewaltbereiten rechten jüdischen Gruppierungen nahe und haben bereits selbst mehrfach zu Hass und Gewalt angestachelt.

Doch auch der Mossad selbst geriet in die Schlagzeilen: US-Medien berichteten, das Pentagon vermute, dass der Mossad die Proteste gegen die Justizreform unterstützt. Belege gibt es dafür nicht. Allerdings hat der Inlandsgeheimdienst Schin Beth seinen Mitarbeiter*innen erlaubt, an den Protesten teilzunehmen. Netanjahu selbst verhält sich indes derzeit ungewöhnlich zurückhaltend: Die Lage sei »herausfordernd«, sagte er nach Angaben seines Büros in einem Gespräch mit einigen Bürgermeister*innen aus dem Süden. Lösungen blieb er schuldig.

In Umfragen verliert Netanjahu zunehmend an Boden. Die wenigsten Beobachter*innen davon aus, dass seine Regierung länger als noch ein paar Monate überleben wird. Zum ersten Mal seit vielen Jahren ist Netanjahus Likud-Partei nur noch Nummer drei, das Rechtsbündnis hat keine Mehrheit mehr. Die Opposition könnte auch ohne die arabischen Parteien eine Regierung bilden. Dass Netanjahu und sein Likud sich davon noch einmal erholen, gilt als unwahrscheinlich.

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