Psychoanalyse: Die Redekur geht mit der Zeit

Die Psychoanalyse wurde entworfen als allgemeingültige Theorie des menschlichen Bewusstseins. Aber auch sie muss den Anforderungen der modernen bürgerlichen Gesellschaften genügen. Vier hauptsächliche Entwicklungslinien prägen die zeitgenössischen psychoanalytischen Konzepte

  • Cécile Loetz und Jakob Müller
  • Lesedauer: 14 Min.
Die Analytikerin sitzt, die Analysandin liegt: Dieses klassische Setting der Psychoanalyse bleibt wohl auch in aktualisierten Therapiekonzepten erhalten.
Die Analytikerin sitzt, die Analysandin liegt: Dieses klassische Setting der Psychoanalyse bleibt wohl auch in aktualisierten Therapiekonzepten erhalten.

Die Psychoanalyse wird mancherorts immer noch vorwiegend mit dem Wirken von Sigmund Freud gleichgesetzt. Tatsächlich hat sie seit ihren Anfängen vor über 120 Jahren aber viele Entwicklungen erfahren und sich in eine Vielzahl von Schulen und Strömungen ausdifferenziert, die in der ganzen Welt gelehrt und praktiziert werden. Wir wollen im Folgenden versuchen, einen Überblick über die zeitgenössischen Konzepte der Psychoanalyse zu geben, wobei wir uns auf sie als therapeutische Heilmethode konzentrieren. Dabei soll allerdings nicht übersehen werden, dass Psychoanalyse nicht nur ein Psychotherapieverfahren ist, sondern eine eigene Wissenschaft und Denkweise, die in vielen Fachbereichen und gesellschaftlichen Gebieten einflussreich ist, von der Pädagogik über die Forensik bis hin zu Kunst, Literatur oder Philosophie.

Ein globales Phänomen

Das Klischee eines staubigen alten Therapieverfahrens, in dem der Therapeut hinter der Couch sitzt und schweigt oder ausschließlich über den Ödipuskomplex sprechen möchte, ist leicht zu widerlegen – ein Blick in die Praxis einer Psychoanalytiker*in sollte genügen. Dennoch ist es schwer zu sagen, worin die zeitgenössische Psychoanalyse eigentlich genau besteht. Psychoanalyse ist eine internationale Angelegenheit, von Taiwan über den Libanon bis nach Uruguay wird sie in fast jedem Land der Erde praktiziert, wobei nicht in jeder Gesellschaft die gleichen Themen relevant sind. In einer Gesellschaft, die durch politische Repression, patriarchale Familienstrukturen und Unterdrückung der Sexualität geprägt ist oder in der religiöse Bindungen eine bedeutsame Rolle spielen, mögen sich in Bezug auf psychisches Leid für die Menschen ganz andere Fragen stellen als etwa in einer Gesellschaft, die ihr Identitätserleben vorwiegend aus einer vermeintlichen Selbstverwirklichung beziehungsweise dem Erfolg der Einzelnen im individuellen ökonomischen Konkurrenzkampf bezieht.

Für die westlichen Gesellschaften lässt sich folgende Annahme aufstellen: Die Entwicklung der psychoanalytischen Verfahren in den letzten Jahrzehnten kann nicht unabhängig von der Liberalisierung der Sexualität, der Transformation traditioneller Familienstrukturen sowie von der Digitalisierung und Ökonomisierung der Lebenssphären betrachtet werden. Es gibt gegenwärtig eine vielseitige internationale Forschungslandschaft, in der immer wieder neue Therapiekonzepte entwickelt werden. Die Behandlungstechnik und das Setting haben sich entwickelt und mitunter stark verändert, wobei wir letztlich eine Vielfalt unterschiedlicher Ansätze vorfinden. Es gibt keine statische Psychoanalyse, die unabhängig von der jeweiligen Problematik und Persönlichkeit des Patienten »appliziert« wird. Psychoanalyse ist nicht nur ein vorgefertigtes Verfahren, das man anwenden kann, sondern immer auch etwas Individuelles, das in der jeweiligen Begegnung von Therapeut und Patient entsteht. Heute kann man von »Tailor-made Psychotherapy« sprechen – einer für die Patient*innen maßgeschneiderten Psychotherapie – wobei die jeweiligen Verfahren darunter durchaus etwas anderes verstehen.

Wir wollen nun versuchen, einige Entwicklungslinien der modernen Psychoanalyse anzuzeichnen, die für die meisten zeitgenössischen Verfahren kennzeichnend sein mögen: erstens von der Einpersonenpsychologie hin zur Beziehungsarbeit; zweitens von der Vergangenheit zum Hier und Jetzt; drittens von der Offenheit zur Zielgerichtetheit; viertens vom Aufdecken zur Strukturbildung. In der genauen Betrachtung dieser vier Aspekte werden wir auch auf einzelne zeitgenössische Behandlungsansätze kurz eingehen.

Vom Individuum zur Beziehung

Die Verschiebung des Fokus von der Einpersonenpsychologie zur Beziehungsarbeit bezeichnet vielleicht die wichtigste Tendenz in der zeitgenössischen Psychoanalyse. Während in klassischen Formen die innere Welt des Analysand*innen im Zentrum stand, die Konflikte der Person mit sich selbst, wird heute die Arbeit in der therapeutischen Beziehung als das Herzstück psychoanalytischer Verfahren verstanden: Es geht um die innere Welt in Beziehung zu anderen. Die Therapeut*in ist keine weiße, schweigende Leinwand, auf welche die Analysand*in die eigenen Konflikte projiziert, sie ist auch nicht äußere Beobachter*in der inneren Vorgänge, welche die Introspektion der Analysand*in anleitet und aus einer wissenden Position heraus spricht. Vielmehr ist die Therapeut*in Mitspieler*in in der therapeutischen Begegnung. Der therapeutische Prozess, die psychische Entwicklung vollziehen sich über emotionale Beziehungserfahrungen der Analysand*in in der Begegnung mit der Therapeut*in. Deren Rolle ändert sich dadurch fundamental: Er oder sie muss greifbarer werden, als Beziehungsperson verfügbar, wobei hier das Ausmaß der Involviertheit von den jeweiligen psychoanalytischen Schulen unterschiedlich veranschlagt wird.

Wichtige Wegmarken in dieser Entwicklung sind die sogenannte intersubjektive und die relationale Psychoanalyse, die in den 1990er Jahren in den USA konzeptualisiert wurden und von dort aus global starken Einfluss genommen haben. Das intersubjektive Paradigma in der Psychoanalyse geht vom Grundsatz aus, dass das Selbsterleben, die eigene Identität vorwiegend von den zwischenmenschlichen Beziehungen her gedacht werden muss. Im Sinne von: Das, was wir sind, werden wir durch Beziehungen und in Beziehungen. Wir treten also nicht mit einem bereits feststehenden Selbst in Beziehung zu anderen, sondern das, was wir sind, entsteht erst im Moment der Beziehung und kann entsprechend durch diese Beziehung geformt werden. Bestimmte Selbstanteile kommen in Resonanz mit der sozialen Situation – oder eben nicht.

Diese Denkweise lässt sich am Phänomen des Klassentreffens veranschaulichen. Es mögen zehn oder zwanzig Jahre seit dem Schulabschluss vergangen sein. Wir sind längst jemand anderes geworden, haben viele Unsicherheiten seit der Schulzeit überwunden, sind in vielerlei Hinsicht gereift. Begegnen wir allerdings Jahrzehnte später alten Schulkamerad*innen auf einem Klassentreffen, sind wir plötzlich wieder in der alten Rolle, empfinden subjektiv auch die alten Unsicherheiten – so als hätte sich, zumindest für den Verlauf des Abends, unser Selbst spontan zurückentwickelt. Das liegt daran, dass wir in ein altes intersubjektives Feld, die Schulklasse, geraten sind, in dem sich für alle Beteiligten bestimmte zwischenmenschliche Muster wiederherstellen, die uns auch ein ganz bestimmtes Selbstgefühl vermitteln. Durch einen drastischen Wechsel des intersubjektiven Feldes hat sich auch unser Selbst neu konstituiert. Verlassen wir diese Situation, erleben wir wieder ein anderes Selbstgefühl. Natürlich gibt es auch den umgekehrten, positiven Fall, etwa das Jahr im Ausland, in dem wir plötzlich jemand anderes sind. Das Selbst verändert sich also mit seinen Beziehungen, was im Übrigen auch im Verlauf eines einzelnen Tages gilt; beispielsweise sind wir auf der Arbeit jemand anderes als zu Hause.

In einem Selbsterleben festzustecken, das sehr nachteilige Auswirkungen hat, bedeutet vor allem, in bestimmten Beziehungsmustern festzustecken – also etwa immer wieder in diese Klassensituation zu kommen, selbst wenn die Schulzeit lange vorbei ist. Andere Selbstanteile, etwa ein extrovertierter, unangepasster Anteil, kommen so gar nicht in Beziehung mit anderen Menschen, finden keine Resonanz. Sie sind in dem Sinne dissoziiert, was eine Desintegration des eigenen Selbst und damit letztlich psychisches Leid bedeutet.

Wie sehr es nun aber doch verfestigte innere Strukturen gibt, die sich auf Basis unserer Vorerfahrungen bilden und unsere Wahrnehmung und unser Verhalten in solchen Situationen regulieren, wird in den verschiedenen psychoanalytischen Ansätzen unterschiedlich verhandelt. Der Schlüssel zur Veränderung ist aber stets das intersubjektive Feld in der Therapie: Die Therapeut*in schlüsselt nicht die innere Welt der Analysand*in durch Deutungen auf, sondern beide entwickeln gemeinsam einen Beziehungsraum, in dem neue Erfahrungen möglich werden. Dann können etwa Selbstanteile Resonanz finden, die bislang völlig von der Verwirklichung abgeschnitten waren.

Bedingung dieser Entwicklung bleibt es freilich, das Geschehen – das heißt vor allem, seine unbewusste Dynamik – zu verstehen: zum Beispiel eine latente Rollenübernahme und Rollenzuweisung, wenn die Analysand*in sich scheinbar wie automatisch in die Rolle der Ahnungslosen, Hilflosen begibt und der Analytiker*in die Rolle der Wissenden, Mächtigen zuschiebt. Gerade diese Asymmetrie in der Beziehung soll zum Gegenstand des Gesprächs werden und lässt sich dadurch überwinden, dass Analysand*in und Analytiker*in ein Miteinander finden, das ohne diese fixen Rollenzuschreibungen auskommt.

Von der Vergangenheit zur Gegenwart

Eine weitere Entwicklung der Psychoanalyse ist die Tendenz, den Schwerpunkt der therapeutischen Aufmerksamkeit nicht mehr auf die Vergangenheit zu legen, sondern auf das Hier und Jetzt der therapeutischen Beziehung. Demnach wird in der Therapie weniger etwas Vergangenes aufgedeckt als etwas Neues geschaffen. Für die therapeutische Arbeit ist die Vergangenheit vor allem insofern wichtig, als es sich um eine »reaktualisierte Vergangenheit« handelt: Erfahrungsmuster, die das Erleben von Beziehungen noch heute maßgeblich prägen und deshalb auch im therapeutischen Raum greifbar werden. Eine verfestigte innere Erwartung etwa mag in der Kindheit entstanden sein: zum Beispiel das Gefühl, mit den eigenen Bedürfnissen von den Bezugspersonen übersehen zu werden.

Als Muster des interpersonellen Erlebens wird diese innere Erwartung aber auch in der therapeutischen Beziehung bedeutsam, sei es in dem Gefühl, die Therapeut*in könne nicht helfen, oder sei es in der Sehnsucht, endlich gesehen zu werden, verbunden mit großen Ängsten, die Therapeut*in zu verlieren. Zwar ist es in einer Therapie wichtig, über frühere Erfahrungen zu sprechen, um sich besser zu verstehen. Vor allem aber ist es wichtig, sich wiederholende Muster im Hier und Jetzt der therapeutischen Beziehung zu begreifen und den Raum für eine neue Erfahrung mit de Therapeut*in zu öffnen. So kann beispielsweise das Gefühl wachsen, dass es eben doch möglich ist, in Beziehung mit anderen zu kommen oder Getrenntheit auszuhalten, ohne sich hilflos und ausgeliefert zu fühlen.

Von der Zielgerichtetheit zur Offenheit

Viele zeitgenössische Therapieansätze tendieren dazu, das therapeutische Vorgehen stärker zu kanalisieren und zu formalisieren. Das klassische Verfahren der Psychoanalyse war thematisch offen – Stichwort freie Assoziation – und prinzipiell zeitlich unbegrenzt. Es war als Prozess gedacht, der von sich aus seinen Weg finden und zu einem Ziel kommen soll, solange sich das die Analysand*in zeitlich und finanziell leisten kann. Als Psychotherapieverfahren der gesetzlichen Krankenkassen ist hier freilich bereits eine Modifikation vorgenommen: Die Sitzungszahl ist von außen begrenzt und die therapeutische Arbeit richtet sich vor allem auf die Behandlung psychischer Erkrankungen; man spricht auch von sogenannten Heilanalysen versus den klassischen Selbsterfahrungsanalysen. Allerdings kann eine gewisse thematische Offenheit und die Abwesenheit von akutem Zeitdruck für eine emotional unverfälschte, nicht direktiv gesteuerte zwischenmenschliche Begegnung weiterhin ebenso von Bedeutung sein wie für seelische Entwicklungs- und Selbsterfahrungsprozesse.

Für die Behandlung von bestimmten psychischen Erkrankungen hat es sich aber in vielen Fällen als wichtig erwiesen, das therapeutische Vorgehen stärker vorzustrukturieren. Manche Patient*innen können innerlich kaum Strukturen herstellen oder aufrechterhalten (wie oftmals bei sogenannten Borderline-Erkrankungen) oder erleben die eigene innere Welt als so überwältigend, dass eine offene emotionale Begegnung erschreckend und verheerend sein kann (wie bei ausgeprägten Traumafolgestörungen). Hier ist es wichtig, dass der therapeutische Ansatz einen strukturierten Rahmen und greifbare Hilfsmittel vorgibt oder edukativ vorgeht, etwa bestimmte psychische Zusammenhänge explizit erklärt.

So wird beispielsweise in der psychodynamisch-imaginativen Traumatherapie mit Hilfe bestimmter therapeutischer Techniken erst einmal die Basis geschaffen, Dissoziation zu überwinden und sich auf eine strukturierte Weise dem Trauma anzunähern. Auch die Mentalisierungsbasierte Therapie, die Dynamisch-Interpersonelle-Therapie bei schweren Depressionen oder die Strukturbezogene Psychotherapie bezeichnen psychoanalytisch begründete Verfahren, die stärker zielgerichtet und vorstrukturiert sind. Zu ihnen gibt es sogenannte Therapiemanuale, mehr oder weniger spezifische »Anleitungen«, in denen das therapeutische Vorgehen systematisch beschrieben, die Therapie in bestimmte Phasen eingeteilt und ein Set an therapeutischen Interventionen beschrieben ist.

Doch auch in weniger vorstrukturierten Therapieansätzen gibt es in der modernen Psychoanalyse wohl eine stärkere Zielgerichtetheit. Diese Tendenz ist sicherlich auch beeinflusst von dem Erfolg, den verhaltenstherapeutische Verfahren in der Psychotherapielandschaft der vergangenen Jahrzehnte verzeichnen konnten. Ohne Zweifel spielen hier außerdem ökonomische Notwendigkeiten eine Rolle, etwa begrenzte finanzielle Ressourcen im Gesundheitssystem.

Von der Aufdeckung zur Strukturbildung

Als letzte Entwicklungslinie wollen wir eine Veränderung im therapeutischen Vorgehen beschreiben, die für die zeitgenössische Psychoanalyse besonders bedeutsam ist. So wurden nämlich für Störungen, die früher als kaum behandelbar galten, mittlerweile therapeutische Herangehensweisen entwickelt, etwa für Persönlichkeitspathologien wie Borderline oder Narzissmus und für psychotische Erkrankungen. In diesen Therapien geht es meist weniger um das Aufdecken unbewusster Konflikte als um den Aufbau seelischer Struktur. Insbesondere psychoanalytische Langzeittherapien haben häufig die Arbeit an sogenannten »Frühen Störungen« oder frühen Störungsanteilen zum Gegenstand, die sich auf die frühe Ich-Entwicklung beziehen.

Unbewusste Konflikte aufzudecken, die eigene Kindheit und Lebensgeschichte zu rekonstruieren und in die eigene Identität zu integrieren: Das alles sind psychische Leistungen, die ein bereits gefestigtes Ich und eine bestimmte integrierte Denkfähigkeit voraussetzen. Es bedarf der Fähigkeit, innerliche Verbindungen herzustellen, Gedanken und Gefühle in Zusammenhang zu bringen. Im Zentrum des inneren psychischen Raumes steht ein symbolischer Gebrauch der Sprache, die einen bedeutsamen Selbstbezug herstellt, nach dem Motto: »Was bedeutet das, was ich sage, was bedeutet das, was der andere sagt? Was hat das eine mit dem anderen zu tun?« Der Psychoanalytiker und Säuglingsforscher Daniel Stern spricht in diesem Zusammenhang vom »verbalen Selbst«, das eine spätere Form des Selbstzugangs in der Ich-Entwicklung bezeichnet.

Eine frühe Störung dieser Entwicklung bedeutet, dass diese Integrationsfähigkeit – man spricht auch von Symbolisierungsfähigkeit – beeinträchtigt ist; vor allem dann, wenn starke Affekte vorherrschen. Ein Beispiel: Der Patient kommt ziemlich geladen in eine Therapiestunde und spricht den Satz »Ich bin heute so stinkwütend«. Eine Therapeut*in nach dem klassischen Verfahren könnte jetzt versuchen, mit einer aufdeckenden Deutung die Bedeutung des Gesagten zu verstehen. Etwa könnte sie fragen: »Vielleicht hängt das mit der letzten Stunde zusammen, wo ja ein schwieriges Thema angesprochen wurde?« und würde damit einen symbolischen Zusammenhang herstellen: Die Wut ist verbunden mit der letzten Stunde, wo der Patient sich sehr verletzt gefühlt hat. Einen solchen Zusammenhang herzustellen, fällt aber bei frühen Störungen unter dem Druck starker Affekte schwer. Der Patient wird nur noch aufgebrachter, sagt möglicherweise etwas wie »Kann sein, aber ich bin einfach nur wütend«. Das Sprechen ist hier nahe am Handeln, Worte können nur schwer in eine symbolische Bedeutung übersetzt werden. Das Leitbild ist vielleicht das schreiende Kind, das einen bestimmten Affektzustand beim anderen platzieren will, im Sinne: »Aua, das tut mir weh! Rede nicht, hilf mir!«

Wird der affektive Druck zu groß, kann die innere psychische Struktur partiell zusammenbrechen, es wird dann wirklich gehandelt statt gesprochen. Die Patient*in kann dann nicht mehr sagen »Ich fühle mich heute zum Weglaufen«, sondern läuft wirklich weg, kommt nicht zur Therapie. In der Psychoanalyse spricht man in diesem Fall vom Agieren, einem Ausdruck des Empfindens in Handlungen. Um das zu verhindern, könnte die Therapeut*in unseres Beispiels statt einer symbolischen Deutung auf die Wutäußerung des Patienten in dieser Situation schlicht antworten: »Ja, das merke ich, heute sind Sie wütend«. In diesem Fall bringt sich die Therapeut*in mit ihren Empfindungen und der eigenen Person viel stärker ins Spiel. Sie antwortet auf einer konkreten Ebene, indem sie das Gefühl des Patienten markiert und damit zu verstehen gibt: »Ich habe verstanden, es ist bei mir angekommen, du bist wütend«. So macht die Patient*in in der Beziehung mit der Therapeut*in die Erfahrung des emotionalen Verstandenwerdens, beruhigt sich vielleicht dadurch und es wird möglich, im weiteren Verlauf ein Stück weit über die Bedeutung der eigenen Wut nachzudenken, also seelischen Raum aufzubauen.

Konkurrenz als Zeitgeist

So sehr die Psychoanalyse von den neuen Ansätzen profitiert und ihre Behandlungstechnik ausdifferenziert und verfeinert hat, ist es doch wichtig, dass psychoanalytisches Denken ein Moment von Widerständigkeit, Unangepasstheit bewahrt – und damit vielleicht auch etwas Unzeitgemäßes. Vielleicht kann die Analyse sogar ein Ort sein, der gerade deshalb wertvoll und heilsam ist, weil er nicht vollständig funktionalisiert und effektiviert werden kann; ein Refugium des ganz Eigenen, Individuellen, das sich nicht berechnen lässt, und damit ein Ort der Freiheit.

Das Label »zeitgenössisch« ist positiv besetzt, es ist wohl auch eine notwendige Eigenschaft eines medizinischen Ansatzes, um der Abschaffung zu entgehen. Doch es liegt auch etwas Ideologisches darin: Eine Sache ist nicht allein dadurch gut, dass sie zeitgemäß ist. Fast könnte man sagen, dass die forcierte Anpassung an das Aktuelle einem jeden Tag neu auszutragenden »Survival of the Fittest«, einem spezifischen gesellschaftlichen Zuschnitt entspringt. Dies ist ein Denken, das zumindest in seinem Extrem dem modernen Konkurrenzkapitalismus nachgebildet ist, dem täglichen Überlebenskampf auf den ökonomischen Märkten, wo nur diejenigen ein Existenzrecht haben, die sich immerzu den situativen Erfordernissen und Neuerungen anpassen.

Vielleicht erleben wir gegenwärtig auch eine Entwicklung weg von dem atemlosen Ringen nach den Variationen des vermeintlich Neuen, einen Überdruss an den postmodernen Konstruktionen des Selbst, eine Suche nach Vergangenheit, nach Rückbindung an etwas, das Gültigkeit hat. Oder, anders ausgedrückt: eine Suche nach Wahrheit in der eigenen Geschichte, nach Familie – im persönlichen wie im gesellschaftlichen Leben. Das muss keineswegs ein verstockter Traditionalismus sein, der keine Verschiedenartigkeit ertragen kann, sondern könnte eine Sehnsucht nach Substanz beschreiben, die ihrerseits damit noch zeitgemäß werden könnte. Es wäre auch innerhalb der Psychoanalyse nicht überraschend, wenn das, was heute als überholt gilt, morgen wieder aktuell würde. Denn Entwicklungen sind kein linearer Zeitstrahl im Sinne eines immer größeren Fortschritts, sondern – in den Worten des antiken Philosophen Heraklit gesagt – »Eins sind Anfang und Ende«. Oft genug mündet also eine Entwicklung, darin der Struktur von literarischen Erzählungen verwandt, letztlich in ihrem Ursprung – aber mit dem gesättigten und reifen Wissen einer Reise, die hinter einem liegt.

Dieser Artikel ist die bearbeitete Version der Folge »Konzepte der zeitgenössischen Psychoanalyse« des Podcasts »Rätsel des Unbewussten«, zu finden unter www.psy-cast.org.

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