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Joyce Maynard blickt nochmal zurück
Autorin Joyce Maynard hat mit Ende 60 das Hörbuch zu »Looking Back: A Chronicle of Growing Up Old in the Sixties« eingelesen
Im Februar dieses Jahres hat die US-amerikanische Schriftstellerin Joyce Maynard mit Ende 60 das Hörbuch zu »Looking Back: A Chronicle of Growing Up Old in the Sixties« eingelesen – einem Werk, das sie veröffentlichte, als sie gerade mal 19 Jahre jung war. Jetzt wurde die Audioversion veröffentlicht und sie kletterte in den US-amerikanischen Audio-Buch-Charts beachtlich nach oben. Als gern gelesenes Standardwerk im US-amerikanischen Schulunterricht ist Maynards Buch viele Jahre durch Schüler*innenhände gereicht worden, wobei vielen bis heute nicht klar ist, unter welchen Umständen »Looking Back« geschrieben wurde.
Aber blicken wir ein paar Jahrzehnte zurück: Es ist 1972. Eine junge Studentin, gerade erst volljährig geworden, wird mit Briefen von einem alternden Schriftsteller umworben, der mehr als doppelt so alt ist wie sie. Sie verliebt sich in ihn, gibt ihr halbes Leben für ihn auf, zieht zu ihm. Nicht mal ein Jahr später drückt er ihr bei einer Reise, die er gemeinsam mit ihr und seinen Kindern aus seiner ersten Ehe unternimmt, zwei 50-Dollarscheine in die Hand. Sie solle ins gemeinsame Heim zurückzureisen, ihre Sachen packen und das Weite suchen, trägt der Mann ihr auf. Er ist der jungen Frau überdrüssig, weil sie für ihn nicht als geeignete Sexualpartnerin taugt – und soll sich nun schnellstmöglich aus seinem Alltag entfernen.
Was sich anhört wie eine fragwürdige Schwerenöter-Posse hat sich tatsächlich so zugetragen. Im Frühjahr 1972 stieß der US-amerikanische Schriftsteller J. D. Salinger in einem US-Magazin auf ein Foto der damals 18 Jahre alten Maynard, die ihren ersten literarischen Ambitionen nachging. Salinger, damals ein Mann in seinen 50ern, schrieb ihr – wie so vielen anderen jungen Frauen, wie sich später herausstellte – einen Brief. Daraus entwickelte sich ein reger postalischer Austausch. Bereits im Sommer hatte Maynard ihren Sommerjob als Autorin für die US-amerikanische Tageszeitung »New York Times« aufgegeben, im September beendete sie ihr Stipendium für Yale und brach auch ihr Studium ab, um aus New York wegzugehen und mit Salinger in New Hampshire zusammenzuleben.
Während sie von Mitte 1972 bis März 1973 mit Salinger zusammenlebte, schrieb sie »Looking Back« – das Buch, dem sie jetzt nochmal mit ihrer Stimme Leben einhauchte. Es wurde nach der Trennung des ungleichen Paares veröffentlicht. Dann geschah viele Jahre lang nicht viel. Maynard hielt sich über die Beziehung zu Salinger bedeckt. Erst über zwei Jahrzehnte später äußert sie sich sehr umfangreich über ihre Zeit mit legendären Schriftsteller und zwar in ihren 1998 erschienenen Memoiren »At Home in the World«.
Viele Kritiker*innen verrissen damals von Zorn getrieben das Buch. Es sei »unbeschreiblich dumm«, hieß es in der »Washington Post« und Salinger wurde von vielen Seiten in Schutz genommen. Als Maynard im selben Jahr die Briefe versteigerte, die Salinger ihr geschickt hatte, um die Gebühren für das College ihrer Kinder zu zahlen, kaufte ein Softwareentwickler sie für 156.500 US-Dollar – um sie an Salinger zurückzuschicken. Jahrelang wird Maynard trotz beachtlichen Erfolgs im Literaturbetrieb zu einer Art Persona non grata. Eine Verführerin und eine, die sich erst bereitwillig von einem legendären Schriftsteller umgarnen ließ, nur um dann seine Privatsphäre zu verletzen, indem sie die Öffentlichkeit an allzu privaten Beziehungsdingen teilhaben ließ. Ihre kurze Liaison mit dem legendären »Der Fänger im Roggen«-Autor sei für sie nur Mittel zum Zweck gewesen, um irgendwann Bücher zu verkaufen.
In den deutschsprachigen Medien resümiert man dazu Ende der 1990er Jahre: »Das Geschäft mit den Memoiren von verlassenen Ehefrauen und verschmähten Geliebten blüht wie eh und je«. Es passt irgendwie nicht ins Bild, dass Salinger, das Idol von Millionen, einfach nur ein schwurbeliger Rohköstler mit Faible für gefrorene Erbsen und viel zu junge Frauen und dazu wahrscheinlich noch ein Arschloch war.
Maynard schlägt sich durch und lebt mit der großflächigen Verkennung der professionellen Rezipient*innen. Bis sie 2018 im Rahmen der #metoo-Bewegung die Möglichkeit ergreift, nochmal auf die Ereignisse von vor über 40 Jahren hinzuweisen. Was lange Zeit als belanglose Romanze einer 18-Jährigen mit einem bedeutendem Schriftsteller galt, erscheint Jahrzehnte später nun doch eher als missbräuchliche Verbindung, die einen aufhorchen lässt. Ein Knoten platzte und Maynard spricht seitdem noch unverblümter über ihr Leben und ihre Zeit mit Salinger.
So auch auf Facebook, wo sie Anfang April zwei Fotos postet, die sie in der gleichen Haltung im New Yorker Central Park zeigen: einmal mit 18, auf Treppenstufen sitzend und posierend für ein Autorinnenfoto. Und mit fast 70, kurz nach Veröffentlichung ihrer jugendlichen Audio-Memoiren. Die beiden Fotos gehen nochmal viral, das Hörbuch steigt weiter in den Charts hoch. Es ist der Triumph der zweiten Chance in einer verlogenen Welt – in die nicht nur die Filmbranche, sondern auch der Kunst- und Literaturbetrieb eingebettet sind.
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