Bosnien-Herzegowina: Ein Land voller Tatorte

Einst waren sie Todfeinde, jetzt bereisen Männer zusammen die Schauplätze des Bosnienkriegs

  • Stefan Schocher, Kacuni
  • Lesedauer: 7 Min.
Zum ersten Mal haben Veteranen und Opfer des Bosnienkriegs gemeinsam frühere Internierungslager besucht.
Zum ersten Mal haben Veteranen und Opfer des Bosnienkriegs gemeinsam frühere Internierungslager besucht.

Als Marjan Krajina aus dem Auto in den nassen Schnee steigt und die Baracke vor sich sieht, zittert er. Ein kahler grauer Bau, verlassen in einem Tal neben dem Fluss am Rande des Dorfes inmitten dunkler Bäume. Er kennt den Ort. In Kacuni hatte er gelebt und als Lehrer unterrichtet – ein Dorf nicht weit von Sarajevo entfernt. Er geht direkt zu einem schweren Eisentor an der Baracke, das aber verschlossen ist. Da steht er, blickt sich um, stapft dann aber los, geht um die Ecke, gebückt und hinkend; er wird schneller, öffnet ein Tor an der Längsseite – und erstarrt dann: Plastikflaschen lieben umher, Kabel sind herausgerissen, es ist staubig in dem dunklen, fensterlosen Raum, die kahlen Betonwende sind aber für Marjan Krajina voller Erinnerungen.

Noch am Vorabend hatte er gesagt, niemals werde er hier wieder hineingehen. Jetzt aber steht er da. Seine Augen füllen sich mit Tränen. 30 Jahre sind sie her, diese 72 Tage, die er hier festgehalten wurde. Seitdem ist für ihn nichts mehr so, wie es einmal war. »Ich kann nicht fassen, was passiert ist«, sagt er. Jeden Schritt habe er danach gehasst. Dabei habe er die Menschen immer geliebt. Jede Nacht liege er seither herum, könne nicht schlafen.

Kacuni ist einer von vielen Orten in Bosnien-Herzegowina, wo Verbrechen verübt wurden, über die kaum jemand spricht. Bosnien ist ein Land voller Tatorte: Lagerhäuser am Dorfrand, verlassene Hallen in der Einöde, heutige Baumärkte am Stadtrand, Brücken. An diesen Orten geschahen während des drei Jahre anhaltenden Krieges von 1992 bis 1995 Gewalttaten, von denen nur die wenigsten juristisch aufgearbeitet wurden. Orte sind das auch, die bislang nie erkenntlich gemacht worden sind.

Und so lehnt eine Dame am Gartenzaun, als Marjan Krajina schniefend im Schnee vor der Halle steht. Sie blickt unbeteiligt hinunter zur Gruppe, die auf dem Wendeplatz vor der Baracke auf der anderen Straßenseite steht.

Erinnerung an den Krieg ist ein schwieriges Terrain in Bosnien. Auch 30 Jahre danach ist das eine Epoche voller emotionaler wie politischer Fallstricke. Eine Zeit, an die man sich erinnert wie an einen Fiebertraum, über den man nicht reden will. Da käme es schon vor, erzählt ein ehemaliger Lagerinsasse, dass Opfer und einstige Folterknechte nach wie vor in derselben Stadt lebten und einander im Alltag mit einem saloppen »Hallo, wie geht’s« auf der Straße begegneten – ohne dass sie das Thema untereinander jemals angesprochen hätten.

Dass Marjan Krajina nun hier steht, hat einen Grund: Der Besuch ist Teil einer Aktion des Zentrums für Gewaltfreie Aktion (CNA) im Rahmen des zivilen Friedensdienstes. Ziel ist es, Veteranen aller Lager und Insassen zusammen an die ehemaligen Tatorte zu bringen, um der Opfer zu gedenken. Tarcin, Kacuni, Zepce, Polje sowie Doboj sind die Stationen dieser zweitägigen Aktion. Für die Beteiligten ist der Wochenendausflug wie eine emotionale Berg- und Talfahrt.

»Am schwierigsten war es, eine Gruppe zusammenzustellen«, sagt Nenad Vukosavljević , Aktivist bei CNA. Er begleitet die Tour. Schwierig sei das vor allem deshalb gewesen, weil man für eine solche Gruppe Menschen aus allen Lagern brauche. Dass Opfer aus Internierungslagern wie Marjan Krajina mitgenommen wurden, war überhaupt das erste Mal.

50 Veteranen und frühere Gefangene aus den Lagern des Bosnienkrieges haben sich aufgemacht, um zusammen diese Orte zu besuchen. Da ist der Mann, dem als Angehöriger einer ethnischen Minderheit in seinem Dorf von einstigen Spielgefährten mit Hufeisenzangen die Zähne ausgerissen wurden. »Ich bin hier als Kind mit dem Rad gefahren«, sagt er vor dem Bau stehend. Da ist ein Mann, der in Lagerhaft gezwungen war, Wasser aus der Heizanlage zu trinken. Da ist ein anderer, der in Gefangenschaft von Soldaten vergewaltigt und mehrmals zum Schein hingerichtet wurde; er fährt heute im Alltag regelmäßig an dem Haus vorbei, wo all das passiert ist. Und mit dabei ist auch der Dorflehrer Marjan Krajina, der in Gefangenschaft von einstigen Schülern gezwungen wurde, seinen Bruder zu schlagen und wenn er das nicht tat, bewusstlos geprügelt wurde; der die Schreie seines Sohnes aus einer anderen Zelle hörte: »Ich habe mir die Finger in die Ohren gesteckt, um das nicht zu hören«, sagt er, in seiner ehemaligen Zelle stehend. Mit seinen beiden Söhnen habe er aber nie darüber geredet, was hier passiert ist, erzählt er später.

Vor der Baracke rauchen die Veteranen und stapfen im Schnee. Marjan Krajina steht etwas verloren dazwischen, wischt sich die Augen aus, da tritt ein Mann an ihn heran und reicht ihm die Hand. Edin Ramulic heiße er, einst Soldat jener Armee, unter deren Kommando die Baracke in Kacuni ein Gefangenenlager war. Unverzeihlich sei das, was Marjan Krajina angetan worden sei, sagt er. Unmenschlich. Das wolle er ihm nur sagen. Und, dass es ihm leidtue.

Edin Ramulic ist der einzige männliche Überlebende seiner Familie. Auch er war in einem Lager. Er weiß, wie es sich anhört, wenn sich die Wärter betrinken und zu wissen, dass sie dann kommen werden, um ihre Wut an Gefangenen abzulassen.

»Es gibt keine Waage für Grausamkeit«, wird einer der Männer am Ende dieses Wochenendes sagen. Und ein anderer: »Ein Täter ist ein Täter, und es ist egal, ob er Serbe ist, ob Kroate oder Bosnier.« So manch einem Hühnen von 120 Kilo wird die Stimme versagen. Manche werden sich abends zusammen betrinken.

»Ungekennzeichneter Ort des Leidens – an diesem Ort wurden im vergangenen Krieg unmenschliche Taten begangen. Wir wollen diese Ereignisse nicht vergessen. Wir zeigen Solidarität mit den Opfern. Es soll sich nie wiederholen.« Das steht auf großen Schildern und Aufklebern, die die Aktivisten des Zentrums für Gewaltfreie Aktion und die Veteranen sowie Ex-Gefangenen bei ihren Besuchen an Objekten anbringen – in Tarcin, Kacuni, Zepce, Polje in Doboj. Sie kommen, halten inne, legen Blumen nieder und erzählen vor allem, was hier passiert ist. Sie bringen den Aufkleber an, manche umarmen einander oder reichen einander die Hände, manche weinen.

Von Tausenden vermuteten Tatorten von Kriegsverbrechen – Orte an denen gefangene Soldaten wie Zivilisten erschossen, oder unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten wurden – sind in Bosnien-Herzegowina lediglich 136 dokumentiert. Und davon wiederum sind nur die wenigsten sichtbar markiert. Das wird dem, was passiert ist, nicht einmal im Ansatz gerecht: 100 000 Menschen starben in den drei Jahren, die der Bosnienkrieg gedauert hat. Zeitweise war die Hälfte der Bevölkerung des kleinen Landes auf der Flucht. Einzelne Verbrechen in diesem Krieg werden als Genozid bewertet. Es soll rund 500 000 Veteranen in diesem gerade einmal knapp drei Millionen Einwohner zählenden Land geben. Der Krieg ist ein bestenfalls im Ansatz aufgearbeitetes kollektives Trauma.

Vor allem aber ist die politische Gegenwart eine, die die ethnische Zugehörigkeit eher betont als aufhebt. Kinder gehen getrennt zur Schule. Im politischen Diskurs überwiegen nationalistische Töne. Christian Schmidt, Hoher Repräsentant der internationalen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina beschriebt den Ist-Zustand als Fortsetzung des Krieges mit politischen Mitteln.

Aussöhnung ist kein bevorzugtes politisches Themenfeld – angefangen bei den Gemeinden über die Kantone bis zur Landespolitik. Auf allen Ebenen zeigt sich: Die Schuld der jeweiligen Mehrheitsethnie in einem Gebiet auch nur anzusprechen, ist politisch riskant. Einfacher scheint es dagegen, eigene Opfer zu betonen.

Und daher reisen die Veteranen zu Beginn auch mit einer Polizei-Eskorte. Alle Bürgermeister der jeweiligen Orte waren zu den Gedenkaktionen der CNA eingeladen. Gekommen ist aber keiner. Eine »Schande« sei das, meint ein Veteran.

Aber immerhin: Bei vorangegangenen Besuchen gab es offene Störaktionen, erzählt ein Aktivist. Zumindest die seien jetzt seltener. Immerhin ist es den Aktivisten mittlerweile erlaubt, die Orte zu besuchen. Als Marjan Krajina vor zwölf Jahren zum ersten Mal wieder in das Dorf gekommen war, in dem er einst gelebt und unterrichtet hatte, ließ man ihn nicht zur Halle am Ortsrand. Ohne Begründung, wie er sagt. Andernorts wurde es den Aktivisten von der Polizei untersagt, Blumen niederzulegen. All das gab es diesmal nicht. Aber dass sie die Aufkleber und Schilder eher symbolisch anbringen und sie wohl schon nach wenigen Stunden entfernt werden, ist allen klar. Dennoch macht eine Schnapsflasche die Runde im Bus, wandert zwischen den Männern, die sichtbar erleichtert sind.

Am Samstagabend spielt im Hotel eine Liveband. Gäste tanzen, trinken, johlen. Marjan Krajina hat sich Krautsalat, Brot, Makkaroni und Kartoffeln auf den Teller geladen. Dazu zwei Stück Kuchen und Kola. Er legt den Kopf schief, schmunzelt, kramt seine Deutsch-Kenntnisse hervor, rezitiert ein Kindergedicht, zwinkert, streicht sich durchs weiße Haar. Verzeihen könne er sehr wohl, sagt er. Nur vergessen könne er nicht. Der Bass hämmert die Nacht lang. Am nächsten Morgen steht Marjan Krajina aber da und strahlt: So gut geschlafen habe er, sagt er.

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