- Politik
- Ukraine-Krieg
Reportage aus der Ukraine: »Der Krieg hat uns alle verändert«
Die Menschen in der Ukraine leben mit dem Ausnahmezustand. An baldigen Frieden glauben nur wenige
Kiew. Sirenen heulen. Ich springe im Bett auf und versuche, meinen Freund Alex wachzurütteln: »Wach auf! Luftalarm.« Er dreht sich weg. »Lass mich! Dieser Scheißalarm ist dauernd«. Ich ziehe mich hastig an. Er seufzt, greift müde nach seinem Handy und checkt eine Warn-App: »Nichts Ernstes! Keine Bomben! Jedenfalls noch nicht«, sagt er ruhig, dreht sich um und schläft weiter. Jetzt beruhige ich mich auch ein wenig. Etwas lächerlich komme ich mir vor, wie ein Außenseiter, der nichts vom Krieg versteht.
Ich wohne für einige Tage bei meinem ukrainischen Freund Alex, mit dem ich seit einigen Jahren befreundet bin, obwohl wir uns oft über den Krieg in der Ukraine und die große Weltpolitik streiten. Er öffnet ein Auge und sagt mit einem spöttischen Grinsen: »Glaubst du immer noch, dass wir mit Putin verhandeln sollten?« »Lass uns nicht vor dem Frühstück diskutieren!«, entgegne ich.
2017 lernte ich Alex über die Internetseite Couchsurfing kennen. Er nahm mich für eine Woche in seiner winzigen, dunklen Wohnung in einem riesigen Gebäudekomplex im Sowjetstil auf. Abends trafen wir uns mit seinen Freunden, die sehr viel jünger waren als ich. Wir tranken Wodka mit Cola, hörten Nirvana und spielten »Wahrheit oder Pflicht«. Sie erzählten mir von den aufregenden Tagen der Maidan-Revolution. Ich hörte gespannt zu, äußerte mich aber auch skeptisch. Ich hatte die Kritik der Antikriegsbewegungen in den USA und Europa an der Nato-Osterweiterung, der Beteiligung rechtsradikaler Kräfte an der Maidan-Revolution und der Unterstützung für die nationalistische Politik der neuen Regierung in Kiew aufmerksam verfolgt. Wenn ich diese Kritik gegenüber Alex und seinen Freunden äußerte, reagierten sie häufig spöttisch. Aber sie machten auch deutlich, dass sie meine Skepsis willkommen hießen. Schließlich ging es für sie auf dem Maidan um Demokratie und Meinungsfreiheit. Und so diskutierten wir viele Stunden, manchmal hitzig und erregt, manchmal nüchtern und besonnen. Wenn der Ärger überhandzunehmen drohte, nahmen wir uns in die Arme, prosteten uns zu und wechselten zu leichteren Themen.
Damals hielt ich eine Rede über Krieg und Frieden an der Universität Kiew. Ich zog Vergleiche zwischen den Konflikten in Nordirland, Israel-Palästina und der Ukraine. Meine Zuhörer reagierten überrascht und irritiert, als ich die Politik des Westens und der ukrainischen Regierung mit teilweise scharfen Worten kritisierte. Ich äußerte meine Hoffnung, dass ein für die Ukraine akzeptabler Frieden verhandelbar wäre, wenn die Ukraine auf die Nato-Mitgliedschaft verzichten, die Minsker Friedensabkommen konsequent umsetzen und entschieden gegen Rechtsradikalismus in der Armee und Polizei vorgehen würde. Die meisten meiner Zuhörer waren Maidan-Aktivisten, die den Kampf der Armee im Donbass unterstützten. »Ich mag die Ukraine«, erklärte ich. »Es ist Euer Land! Niemand kann Euch sagen, was Ihr tun sollt. Wenn Ihr weiter kämpfen wollt, dann kämpft! Aber was spricht dagegen, dem Frieden eine Chance zu geben?« Viele Zuhörer dankten mir, dass ich sie zum Nachdenken angeregt hätte.
Erst nach der Rede erfuhr ich, dass nicht alle Reaktionen positiv waren. Die Veranstalter brachten mich rasch durch einen Hinterausgang aus dem Saal, weil sie um meine Sicherheit besorgt waren. Sie rieten mir, das Gelände schnellstmöglich zu verlassen. »Wir haben hier Extremisten, die sehr gefährlich werden können, wenn sie bestimmte Ansichten als Verrat betrachten. Für sie ist deine Meinung russische Propaganda.«
An einem Abend besuchten wir eine große Kneipe in Kiew. Eine Band spielte Cover-Versionen von Simon and Garfunkel. An einer Wand hingen Schilde, Helme und Fahnen der Maidan-Revolution. Ich entdeckte mehrere Nazi-Symbole – wie die Wolfsangel und die schwarze Sonne – und sprach meine Freunde darauf an. »Ja, diese Symbole kommen vom Rechten Sektor«, erklärte mir Alex. »Aber wieso habt ihr rechtsradikale Organisationen auf dem Maidan geduldet?«, fragte ich. »Ich mag den Rechten Sektor gar nicht«, antwortete er. »Ich bin schwul. Und die haben ein Problem damit, um es vorsichtig zu sagen. Aber hey … die haben an vorderster Front gekämpft. Es waren einfach die besten Kämpfer! Die treiben Kampfsport und können mit Waffen umgehen. Wir haben sie gebraucht.«
Als die russische Armee im Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert, mache ich mir Sorgen um Alex. »Ich möchte so schnell wie möglich hier raus und nach Deutschland«, sagt er mir auf Skype. Ich versichere ihm, dass er bei mir in Potsdam unterkommen kann. Aber schon ein paar Tage später wird klar, dass die Ukraine ein rigoroses Ausreiseverbot für Männer im wehrfähigen Alter durchsetzt. »Ich unterstütze unsere Armee«, erklärt mir Alex mit einem tiefen Seufzer. »Aber ich bin einfach kein Soldat! Ich möchte nicht kämpfen. Ich möchte meinem Land auf bessere Weise dienen.«
Nun, ein Jahr später, reise ich für zehn Tage wieder in die Ukraine. Im Bus nach Lwiw unterhalte ich mich zunächst freundlich mit einem US-Amerikaner, der das Land gut kennt, über die Auswirkungen des Krieges. Als ich kritische Fragen zum Einfluss der Neonazis in der Ukraine stelle, wird er unruhig. »Wird das Asow-Bataillon nicht von Neonazis dominiert?«, frage ich ruhig. »Ich sage dir jetzt etwas! Hör gut zu!«, sagt er laut und drohend. Der halbe Bus dreht sich zu uns um. Er wird noch lauter: »Ich möchte nichts, gar nichts mit dir zu tun haben. Deine Ansichten sind in der Ukraine unerwünscht. Die Asow-Kämpfer sind Helden! Was du sagst, ist sehr gefährlich. Du solltest lernen, wann du deine Klappe halten musst. Und deine Propaganda klingt sehr nach Putin. Und jetzt setz’ dich woanders hin.« Einige Fahrgäste blicken mich vorwurfsvoll an. Ich bekomme Angst. »Ich habe nur eine Frage gestellt. Ich habe keine klare Meinung dazu«, erkläre ich laut. Aber noch immer blicken mich Menschen von allen Seiten herausfordernd, ja drohend an. Ich lächele und sage: »Slawa Ukraini!« – »Ruhm der Ukraine!« Die Blicke werden freundlicher. »Slawa Ukraini«, antwortet eine junge Frau. Ich stehe auf, sage laut und deutlich: »Fuck Putin!« und setze mich weg.
Am nächsten Tag spaziere ich durch Lwiw. Unzählige unscheinbare Details erinnern an den Krieg. Die Blockaden vor öffentlichen Gebäuden. Die Durchhalteparolen an den Wänden. Die Gespräche und sorgenvollen Gesichter der Menschen. Der Krieg scheint weit weg und doch allgegenwärtig. Vor dem großen Denkmal für Stepan Bandera frage ich mich, ob die Menschen in dieser Stadt wissen, wie viele Juden und Polen der faschistische Führer auf dem Gewissen hat. Später beobachte ich ein Militärbegräbnis. Ukrainische Soldaten erweisen einem Kameraden die letzte Ehre. Neben ihnen stehen etwa 20 schwarz gekleidete, schwer bewaffnete Männer mit rot-schwarzen Armbändern – in den Farben der »Organisation Ukrainischer Nationalisten«, OUN, die Bandera einst anführte. Als der Sarg an uns vorbeigetragen wird, fallen wir im Regen auf die Knie. Die Witwe windet sich in Verzweiflung. Doch ihre Soldatenuniform trägt sie mit großer Würde.
Auch in Kiew staune ich darüber, wie weitgehend ungestört das Alltagsleben der meisten Menschen zu verlaufen scheint. »Der Krieg hat uns alle verändert«, erklärt Alex: »Aber wir machen auch viele Dinge weiter wie zuvor. Zum Teil, weil wir dazu gezwungen sind. Wir müssen arbeiten und einkaufen. Zum Teil, um nicht verrückt zu werden. Deswegen treffen wir uns weiter mit Freunden. Die Bars sind voll.« Er zeigt mir zerstörte russische Panzer und Kriegsschäden in der Stadt. Er schildert mir, wie er Explosionen von seinem Balkon beobachtete: »Es ist ein furchtbares Gefühl, wenn eine Bombe einschlägt«, erklärt er mit ernster Miene. »Jeder hat Angst in solchen Momenten. Du kannst nichts tun gegen so eine Macht. Die Bombe erschüttert den Körper und die Seele von oben bis unten. Die meisten von uns bleiben äußerlich relativ ruhig. Aber wir alle geraten in eine innere Panik.«
Ich fahre mit einem Uber-Wagen in die nahegelegenen Städte Butscha und Irpin, wo eine der bittersten Schlachten des Krieges tobte. Die zerbombten Häuser lassen einige verwüstete Bezirke wie Geisterstädte wirken. Gruppen von Jugendlichen spielen in den Ruinen und schreien sich die Verzweiflung und den Ärger vom Hals. Das Donnern von Kampffliegern über mir lässt mich zusammenzucken. »Das müssen ukrainische Flugzeuge sein«, sage ich mir laut, um mich zu beruhigen: »Sonst würden die Sirenen heulen.« Ich setze mich an einen Schützengraben, neben einem ausgebrannten Auto und lasse die Beine baumeln. Eine Träne rollt mir über die Wange. Ein älterer Mann kommt auf mich zu und lächelt mich an: »You from America?«, fragt er. »Germany«, antworte ich. Er nickt freundlich, setzt sich neben mich und legt einen Arm um meine Schulter. »War is terrible!«, sage ich. Er nickt. Dann reicht er mir eine kleine Flasche Wodka und einen Schokoladenriegel.
»Wie viele Menschen in der Ukraine glauben an die Möglichkeit, Frieden zu schließen?« Diese Frage stelle ich allen, mit denen ich ins Gespräch komme. Die meisten antworten mir, dass sie im Moment wenig Hoffnung auf Frieden haben. Ein junger Ukrainer erklärt mir: »Ich bin sehr skeptisch gegenüber Verhandlungen. Aber wenn ich dafür wäre, hätte ich Angst, das laut in der Öffentlichkeit zu sagen. Wer für Verhandlungen eintritt, äußert das meistens im Privaten gegenüber Freunden.« Die Ukraine ist zweifellos demokratischer als Russland. Aber die junge Demokratie schwebt – so scheint mir – in Gefahr.
Ich erlebe die mitunter leichte, manchmal ausgeprägte Intoleranz vieler Ukrainer als die Schattenseite der Kampfgemeinschaft. Ein gewisses Maß an Unnachgiebigkeit ist menschlich und verständlich für eine Nation, die mit vereinten Kräften ihre Souveränität und Unabhängigkeit verteidigt. Die Gemeinschaft ist überlebensnotwendig. Ich erlebe sie als inspirierend, ja berauschend. An vielen Hauswänden steht die Parole: »Be brave like Ukraine« – »Sei mutig wie die Ukraine«.
Meiner Freundschaft mit Alex hat der Krieg nicht geschadet. Im Gegenteil: Er hat sie erneuert und vertieft – wie viele Freundschaften und Partnerschaften in der Ukraine. Viele Ukrainer schildern mir stolz, wie der Krieg das Gemeinschaftsgefühl und die Hilfsbereitschaft gestärkt hat. »Wir halten zusammen, weil wir sonst verlieren und untergehen«, sagt Alex. »Wir sind stärker, mutiger und dankbarer für alles, was wir haben.«
Aber um unsere Freundschaft zu retten, mussten Alex und ich noch toleranter, noch offenherziger werden. Alex ist wütend – nicht nur auf Putin, die russische Führung und die russischen Soldaten, sondern auch auf alle Menschen, die die russische Aggression in irgendeiner Form beschönigen. Er gesteht, dass der Krieg die Toleranz vieler Menschen für abweichende Meinungen untergräbt. »Wir werden angegriffen – jeden Tag«, sagt er. »Wir müssen uns gemeinsam verteidigen – und dafür benötigen wir die besten Waffen aus dem Westen. Du musst verstehen, dass wir alle Meinungen, die diese Solidarität zwischen uns und dem Rest der Welt untergraben, als Gefahr empfinden – und sogar als Angriff.«
Ich halte mich auf dieser Reise mit meinen Meinungen zurück. Denn ich möchte nicht als arrogant oder naiv erscheinen. Also höre ich viel und aufmerksam zu, bevor ich kritische Fragen stelle. Ich spüre, dass wir Außenstehenden überhaupt nur Einfluss haben, wenn wir das Vertrauen und den Respekt von Ukrainern genießen.
Die am meisten belastende Erfahrung meiner Reise sind weder die Sirenen noch die Narben des Krieges in Butscha, sondern die Heimreise. Viele einsame Stunden in Zügen und Bussen zwingen mich dazu, das Erlebte zu verarbeiten. Dieser Prozess ist sehr viel schmerzhafter, wenn da niemand ist, mit dem man die düsteren Gedanken teilen kann.
Wie lange und zu welchem Preis sollten die Ukrainer weiter kämpfen? Sollten sie verhandeln? Sollten sie zugleich kämpfen und verhandeln? Ich weiß es nicht. Aber ich akzeptiere meine Unsicherheit. Ich weiß, dass mir dieses Land und seine Menschen am Herzen liegen, und ich weiß, dass ich an dieses Land und seine Menschen glaube. Die Ukraine wird niemals untergehen. Meine kurze Reise hat mich Demut gelehrt. Und sie hat mich an den Wert wahrer Freundschaft erinnert.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.