Pflege: Mit Entlastung gegen Fachkräfteflucht

In Berlin und NRW gibt es inzwischen Tarifverträge, die mehr Klinikpersonal bringen sollten – wie läuft ihre Umsetzung?

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 4 Min.

Zu den wichtigsten gewerkschaftlichen Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel in der Pflege gehört seit einigen Jahren der Kampf um Entlastung. 2015 gab es an der Berliner Charité den deutschlandweit ersten Tarifvertrag, der für mehr Personal sorgen sollte. Inzwischen hat Verdi bundesweit an 24 Kliniken einen Tarifvertrag Entlastung (TV-E) durchsetzen können. Am Universitätsklinikum Gießen und Marburg findet aktuell ein weiterer Arbeitskampf für einen TV-E statt.

Die sicherlich spektakulärsten Auseinandersetzungen um Entlastung gab es 2021 mit der Berliner Krankenhausbewegung, die mehrere Wochen lang streikte und so Entlastungstarifverträge an der Charité (in verbesserter Form) und erstmals auch bei Vivantes durchsetzte. Und in Nordrhein-Westfalen: Hier legten die Beschäftigten von sechs Unikliniken im Frühjahr und Sommer 2022 ganze elf Wochen die Arbeit nieder – am Ende ebenfalls mit Erfolg.

Die einzelnen Verträge sind durchaus unterschiedlich, die Grundidee ist stets: Krankenhauspersonal muss verbindlich entlastet werden. Dafür gibt es Ratios, für die Stationen definierte Personal-Patienten-Schlüssel, und Maßnahmen, wenn diese nicht eingehalten werden: vor allem Entlastungspunkte für die Beschäftigten, mit denen sie zusätzliche freie Tage nehmen können. Die gewerkschaftliche Überzeugung dahinter: Entlastung ist ein Schlüssel, um Fachkräfteflucht aus dem Beruf zu verhindern und ihn für den Nachwuchs attraktiver zu machen – sonst lasse sich aus dem Teufelskreis des Personalmangels nicht ausbrechen. Denn Personalmangel macht Beschäftigte krank, und in zu knapp besetzten Schichten geraten sie in Konflikt mit ihrem Berufsethos. Viele halten das nicht lange durch, reduzieren ihre Arbeitszeit oder verlassen den Beruf, wodurch der Mangel noch verstärkt wird.

Befragungen unter (Ex-)Pfleger*innen bestätigen das. Mindestens 300 000, möglicherweise sogar bis zu 660 000 Vollzeitpflegekräfte stünden in Deutschland durch Rückkehr in den Beruf oder Aufstockung der Arbeitszeit zur Verfügung, wenn sich die Arbeitsbedingungen deutlich verbesserten. Das hatte 2022 eine Studie der Arbeitnehmerkammer Bremen, der Arbeitskammer im Saarland und des Instituts Arbeit und Technik ergeben. Der Großteil dieses Potenzials beruhte in den Befragungen auf der Rückkehr ausgestiegenen Gesundheitspersonals.

Entlastung per Tarifvertrag könnte die Arbeitsbedingungen verbessern und damit Kolleg*innen zur Rückkehr bewegen, so auch die Hoffnung vieler, die dafür gestreikt haben. Wie läuft nun die Umsetzung? »Sehr unterschiedlich«, sagt Albert Nowak, Intensivpfleger am Universitätsklinikum in Köln. Im Ausbildungsbereich gebe es an seiner Klinik durchaus Verbesserungen: zwei Tage zusätzlicher Urlaub und Lerntage beispielsweise. Insgesamt aber ist die Bilanz durchwachsen. »Ein bisschen mehr hätte ich mir vielleicht erwartet. Aber realistisch betrachtet war es wohl klar, dass nicht sofort mit Inkrafttreten des TV-E das neue Personal vor der Tür Schlange steht«, so Nowak. Am Uniklinikum Aachen und Bonn gebe es große Schwierigkeiten – »das waren auch in den Verhandlungen die beiden Kliniken, die viel blockiert haben«. In Münster laufe es dagegen sehr gut, dort würden notfalls auch Betten gesperrt, um die Ratios, also das für eine Station vereinbarte Pfleger-Patienten-Verhältnis, einzuhalten.

»Es ist nicht besser geworden«, sagt Silvia Habekost, Krankenpflegerin am Vivantes-Klinikum in Berlin. Der Druck, möglichst viele Patienten zu behandeln, sei unverändert hoch. Warum? »Die Haltung der Arbeitgeber ist jetzt: Ihr bekommt doch nun die Entlastungspunkte dafür, dass ihr belastet arbeitet. Wir haben aber dafür gekämpft, nicht mehr so arbeiten zu müssen, für mehr Personal, nicht für die Entlastungspunkte.« Die Flucht in Teilzeit oder ganz aus dem Beruf habe bislang nicht verlangsamt werden können, so Habekost, auch weil sich die Krankheitswelle der vergangenen Monate heftig ausgewirkt habe. Daher könnten erfolgte Neueinstellungen kaum Effekt erzielen.

Dass die erhoffte Entlastung noch auf sich warten lässt, mag ernüchternd sein. Aber man habe mit dem erkämpfen TV-E »eine Grundlage geschaffen«, sagt Nowak. »Damit sich das Problem des fehlenden Personals wirksam lösen lässt, müssen größere Stellschrauben gedreht werden: Stichwort Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Mit einem Tarifvertrag lässt sich nicht von heute auf morgen lösen, was über Jahrzehnte falsch gelaufen ist.«

Das Gehalt spiele natürlich auch eine Rolle. »Wir müssen dahin kommen, dass Menschen über den Pflegeberuf denken: ›Da kann ich gut arbeiten und außerdem finanziell zurechtkommen, auch wenn ich in Teilzeit oder alleinerziehend bin‹«, sagt Nowak. Um hier zumindest einen Schritt in die richtige Richtung zu gehen, wird an einigen Kliniken dieser Tage wieder gestreikt: für 10,5 Prozent beziehungsweise mindestens 500 Euro mehr im Monat im Rahmen der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes. An anderen, die unter den Tarifvertrag der Länder fallen, steht Ende des Jahres die Lohnauseinandersetzung an.

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