Märchenstadt Prag

In Tschechien besucht nd-Kolumnistin Anne Hahn Fußballspiele der Bohemians, badet in einem filmreifen Schwimmbad – und lernt sogar Jesus kennen

  • Anne Hahn
  • Lesedauer: 4 Min.
Fans der Bohemians Prag durften während der Corona-Pandemie zeitweise nicht ins Stadion – und fanden trotzdem einen Weg, ihre Mannschaft anzufeuern.
Fans der Bohemians Prag durften während der Corona-Pandemie zeitweise nicht ins Stadion – und fanden trotzdem einen Weg, ihre Mannschaft anzufeuern.

Am Ende der Marmorstufen erscheint Jesus. Goldenes Haar fließt über seine Schultern, ein Lichtkranz liegt über seinem Scheitel. Er lächelt mich an. Ich komme aus dem Takt und verschlucke mich, tauche unter und wende. Das Wasser ist trübe wie ein Teich. Ich drehe mich auf den Rücken, schwimme unter ausgeblichenen Tüchern und flackernden Fackeln zurück zu den Podesten aus Marmor, dem dahinterliegenden Fenster und einem lächelnden Jesus darin.

Über Wasser
Anne Hahn

Foto: privat
Anne Hahn ist Autorin von Romanen und Sachbüchern und schwimmt für »nd« durch die Gewässer der Welt.

Prag ist eine Märchenstadt. Für mich schon immer. Mein Großvater diente in der tschechischen Armee und schickte eine kolorierte Karte in seine sudetendeutsche Heimat, auf der eine Stadt mit goldenen Dächern und Türmen zu sehen war. Meine Großmutter schwärmte noch Jahrzehnte später von ihren schönen Brücken und Kirchen. Prag war für uns schnell erreichbar, legendär die Cafés und Biertempel. Nie hatte ich so viele Bücher gesehen wie im Strahov-Kloster und keine so große Kirche wie den Veitsdom. Der Golem und der kleine Maulwurf gehören für mich zu Prag wie Ritter Keule zum 1. FC Union und Carl der Zeissig zum FCC Jena. Über die Originalität von Klubmaskottchen lässt sich diskutieren.

Wir verbringen das erste April-Wochenende in Prag, drei von uns stammen von der Küste, zwei aus Sachsen-Anhalt, einer aus Thüringen, zwei aus der Schweiz beziehungsweise Serbien. Bevor wir uns in Fußballabenteuer stürzen, gehe ich schwimmen. Das älteste Schwimmbad Prags, wie Kassenwart Jesus mir erzählt, liegt im Keller des Sportpalastes T.J. Sokol Praha Královské Vinohrady, dem gut hundertjährigen hellen Backsteinbau auf einem der Weinberghügel. Hier werden oft Filme gedreht, schmunzelt Jesus – angesichts der liebevoll ausgebesserten Kachelwände, alten Holzspinde, Drahtgitterkabinen und Generationen von Heizungskörpern, die übereinander angebracht sind, glaube ich das sofort.

Ich teile mir die fünf 25-Meter-Bahnen mit zwei Leuten, dusche, föhne, plaudere mit Jesus, bestaune einen Schaukasten mit den Erfolgen der Bohemians und die vielen Kaugummi- und Spielzeug-Automaten im grün-türkis gekachelten Foyer und eile zu meinen Freunden.

Das Stadtzentrum meiden wir, unser Tummelplatz ist das Weinbergviertel mit dem brutalistischen Fernsehturm, an dem Babys hinauf- und hinunterkrabbeln, der experimentellen Herz-Jesu-Kirche und drei nahen Stadien, die wir alle besuchen. Die Fortuna Arena von Slavia, das Stadion des FK Viktoria Žižkov und das Ďolíček der Bohemians. Manche kommen außerdem bis knapp an den Rathausturm, fünf gelangen fast an Kafkas Grab, zwei bis drei schaffen das Sparta-Spiel am anderen Ufer der Moldau. Bei Slavia Prag trottet ein todtrauriger Plüschhund herum und eine Halbzeit dauert zwei Stunden, bei Viktoria-Žižkov ist das Bier eiskalt und kleine Jungs üben das In-Haufen-aufeinander-Springen, bei den Bohemians sind die Trommler Frauen.

In der zweiten Halbzeit wird es im Ďolíček plötzlich ruhig, Fackeln hüllen alles in Nebel. Der grüne Rauch verzieht sich, die Totenkopffahne vor mir wird sichtbar und neben mir ein Mann, der ein hasengroßes Känguru in den Armen trägt und herzt. Um uns herum wird gesungen, wir schwimmen in der Masse mit – bis ein über die Lautsprecher eingespieltes kurzes Signal ertönt, etwas abgehoben und ausscheppernd – das einer von uns erkennt: es ertönte, wenn der Ring des Zauberers der tschechischen Kinderserie Die Märchenbraut umgedreht wurde. Auf dem Platz fällt ein Tor und schon wieder hat jemand Bier für alle geholt. Als der Zauberring erneut gedreht wird, gebe ich dem Plüschkänguru ein Küsschen.

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