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Serie »Transatlantic«: Seifenoper mit Kriegsgegnern
»Transatlantic« erzählt von Varian Fry und dem Emergency Rescue Committee, das tausende Künstler und Intellektuelle vor den Nazis rettete
Nachdem Nazi-Deutschland Frankreich überfallen und in weiten Teilen besetzt hatte, wurde die Hafenstadt Marseille 1940/1941 für viele Geflüchtete zur letzten Hoffnung, um den Faschisten zu entkommen. Das unter anderem von Thomas und Erika Mann in New York gegründete Emergency Rescue Committee versuchte, vor allem den in Südfrankreich gestrandeten Künstlern und Intellektuellen die Flucht in die USA zu ermöglichen.
Der Journalist und Harvard-Absolvent Varian Fry koordinierte das Netzwerk vor Ort in Marseille und ermöglichte mehr als 2000 Menschen die Flucht aus dem von Faschisten besetzten Europa, unter anderem André Breton, Hannah Arendt, Max Ernst und Anna Seghers. Diese Ereignisse wurden schon vielfach in Literatur und Film bearbeitet. Nun hat sich Netflix des Stoffes angenommen und Anna Winger, die auch für die mehrfach ausgezeichnete Serie »Unorthodox« verantwortlich zeichnet, mit ihrer Produktionsfirma Airlift eine siebenteilige Serie über Varian Frys Arbeit entwickeln lassen. »Transatlantic« basiert lose auf Julie Orringers Roman »The Flight Portfolio« (2019), der die historischen Ereignisse in Marseille um einige Fiktionalisierungen erweitert.
Da die Netflix-Verfilmung dem noch weitere erfundene und ausschmückende Details hinzufügt, ist »Transatlantic« keine wirklich historische Erzählung im strengen Sinn. Auch wenn sich die bekanntesten Künstler und Intellektuellen der damaligen Zeit quasi gegenseitig auf die Füße treten und die Arbeit des Emergency Rescue Committees historisch noch relativ genau inszeniert wird. So tauchen hier Max Ernst, Peggy Guggenheim, Walter Benjamin, Hannah Arendt, Victor Serge, André Breton und viele andere auf, die allesamt in der Villa Air Bel am Rande Marseilles wohnen, in dem das Emergency Rescue Commmittee sein Lager aufgeschlagen hatte.
Es werden Fluchtpläne ausgeheckt und über Politik diskutiert, Verhandlungen mit den Konsulaten, Botschaften und Behörden geführt. Es wird in der Villa aber auch Kunst gemacht, ausgiebig getrunken und gefeiert. Im Zentrum der Erzählung stehen neben Varian Fry (Cory Michael Smith) der Ökonom Albert Hirschman (Lucas Englander) und die amerikanische Millionen-Erbin Mary Jayne Gold (Gillian Jacobs), die das Netzwerk mitfinanzierte.
Angereichert wird das alles mit einer Spionage-Geschichte, in der es um die Befreiung britischer Kriegsgefangener geht, und eine Gruppe schwarzer Franzosen gründet eine Widerstandszelle gegen die Nazis, die aber eigentlich Sprungbrett in den antikolonialen Kampf sein soll.
Daneben gibt es aber auch alle möglichen romantischen Begegnungen, sodass die Serie stellenweise etwas von einer flott inszenierten Seifenoper mit hippen Künstlern und linken Intellektuellen hat. Varian Fry führt eine queere Liebesbeziehung, Albert Hirschman fängt ein Tête-à-Tête mit der Millionenerbin Mary Jayne Gold an, die nebenbei auch noch für den britischen Geheimdienst arbeitet.
Dazwischen lassen es dann Peggy Guggenheim und Max Ernst bei einer Party in der Villa so richtig krachen, André Breton gibt sich immer betont seriös und Walter Benjamin, nur wenig überzeugend dargestellt von Moritz Bleibtreu, konsumiert exzessiv Opiate und wirkt ständig etwas verwirrt, während Hannah Arendt kettenrauchend wie ein Buch daherredet.
Das alles wirkt bisweilen bemüht, die politischen Widerstände, mit denen sich Varian Fry und das Komitee – unter anderem auch seitens der amerikanischen Botschaft – konfrontiert sahen, werden aber überzeugend in Szene gesetzt. Daneben versuchen die Behörden des Vichy-Regimes, sich bei den Nazis lieb Kind zu machen, und nutzen die Besatzung, um gegen jüdische Nachbarn und politisch unliebsame Feinde von links vorzugehen.
»Transatlantic« erzählt auch von der Problematik, dem das Geflüchteten-Netzwerk gegenüberstand. Denn Varian Fry war angehalten, die wichtigsten Köpfe zu retten, sodass bei Interviews mit Geflüchteten und der Entscheidung, wer unterstützt werden sollte, auch nach wissenschaftlichen und künstlerischen Publikationen gefragt wurde. Insgesamt bietet »Transatlantic« bei allen Schwächen durchaus einen neuen und sehenswerten Blick auf ein bekanntes Thema.
Verfügbar auf Netflix
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