EU errichtet weltweit größte Biometrie-Datei

Wartezeiten an deutschen Flughäfen könnten sich verdreifachen

Nach derzeitigen Plänen müssen bald sämtliche Angehörige aus Drittstaaten bei der Einreise in den Schengenraum vier Fingerabdrücke und das Gesichtsbild abgeben. Noch dieses Jahr will die Europäische Union dazu das neue »Ein-/Ausreisesystem« (EES) in Betrieb nehmen. Es richtet sich vor allem an visumfrei Reisende, denn Asylsuchende und Visapflichtige sind bereits seit 2003 beziehungsweise seit 2011 von dieser Prozedur betroffen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Drittstaatler aus touristischen oder geschäftlichen Gründen einreisen.

Die Einrichtung des EES ist seit Anfang der Zehnerjahre in Planung, anfangs noch unter dem Schlagwort »Smart Borders«. Die endgültige Einführung haben die EU-Mitgliedstaaten und das Parlament im November 2017 mit der »Verordnung über ein Einreise-/Ausreisesystem« beschlossen. Mit der Einrichtung, dem Betrieb und der Wartung ist die in Estland ansässige Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen (eu-LISA) beauftragt. Sie wurde ebenfalls in den Zehnerjahren in Anbetracht mehrerer neuer, großer EU-Datenbanken von der EU ins Leben gerufen.

Mit dem EES wollen die Regierungen sogenannte »Aufenthaltsüberzieher« ermitteln. Damit sind Personen gemeint, die den Zeitraum ihrer visafreien Kurzaufenthalte von höchstens 90 Tagen überschreiten. Zwar verfügen einzelne Staaten über nationale Datenbanken, in denen darüber Buch geführt wird, wer mit welchem Aufenthaltsstatus ein- und wieder ausreist. Auf europäischer Ebene existiert ein solches »Ein-/Ausreisesystem« aber noch nicht.

Mit den anvisierten mehreren Hundert Millionen Einträgen im EES handelt es sich um die weltweit größte Biometrie-Datei, jedenfalls was den Sicherheitsbereich betrifft – ebenfalls auf Biometrie basierende Einwohnerregister wie etwa in Indien nicht mitgezählt. Mit Einträgen zu 275 Millionen Personen sind derzeit noch US-Behörden in diesem Bereich führend.

Auch Polizeien und Geheimdienste dürfen die im EES gespeicherten Daten zur Bekämpfung des Terrorismus und sonstiger schwerer Kriminalität sowie ganz allgemein für die »innere Sicherheit« nutzen. Damit wurde der ursprünglich einzige geplante Zweck des Systems (die Ermittlung von »Aufenthaltsüberziehern«) deutlich erweitert. Zur Begründung hieß es damals von einigen Regierungen, dass sich die anvisierten Anschaffungskosten von rund einer Milliarde Euro ansonsten nicht lohnen würden.

Das EES ist das komplexeste europäische Informationssystem seit Einführung des Schengener Informationssystems im Jahr 1995. Beide Datenbanken basieren auf einem Zentralsystem, an das in jedem Teilnehmerstaat eine dezentrale Verbindungsstelle angeschlossen ist. Jeder neu eingespeicherte Datensatz wird über diese Verbindungsstelle auf möglicherweise bereits vorhandene Daten zu dieser Person geprüft. Außerdem können die zuständigen Behörden darüber Datensätze abgleichen oder biometrische Abfragen im EES vornehmen.

Eigentlich sollte das neue EES im September 2022 in Betrieb gehen, diesen Zeitpunkt hatte die EU-Kommission auf Mai dieses Jahres verschoben. Jedoch konnte auch dieser Termin nicht gehalten werden, die Rede ist nun vom kommenden September. Die Schuld an der Verspätung sieht eu-LISA vorwiegend bei den Firmen, die für den Aufbau des EES verantwortlich sind. Zwar hätten auch die Unterbrechung von »globalen Lieferketten« sowie die Pandemie zu Schwierigkeiten geführt, diese seien aber von eu-LISA gemeistert worden. Jedoch habe das zuständige Firmen-Konsortium die Komplexität der Arbeiten am EES »erheblich unterschätzt«, heißt es in der Antwort an den Europaabgeordneten Patrick Breyer. Mehrmals seien die betroffenen Firmen IBM, ATOS und Leonardo aufgefordert worden, die Mängel zu beheben, diese hätten aber »nicht rechtzeitig und effizient reagiert«, schreibt eu-LISA.

Zukünftig soll das manuelle Stempeln von Reisedokumenten beim Grenzübertritt entfallen, auch dies gehört zu den Zwecken des EES. Wegen der Abgabe der biometrischen Daten erhöht sich die Zeit für jede einzelne Grenzkontrolle trotz Verzicht auf die Stempel allerdings beträchtlich. Die Regierung in Paris hat deshalb angekündigt, die Einführung des EES auf einen Zeitpunkt nach der Olympiade, die bis August 2024 in Frankreich abgehalten wird, zu verschieben.

Für die deutschen Flughäfen wird nach Inbetriebnahme des EES mit einer Verdreifachung der Kontrollzeit gerechnet, zuständig ist dafür die Bundespolizei. Zwar geht das Bundesinnenministerium nur von einer Erhöhung um rund 40 Prozent aus. Simulationen mit der Luftverkehrsindustrie hätten jedoch in manchen Konstellationen eine Erhöhung bis zum Faktor drei errechnet.

Bislang sind keine Szenarien bekannt, wann die erhöhten Wartezeiten an den EU-Außengrenzen wieder zurückgehen. »Eine Normalisierung sollte nach einer kurzen Übergangsphase eintreten, sobald die eingeleiteten Maßnahmen ihre Wirkung entfalten und die betroffenen Reisenden mit den Veränderungen der Grenzkontrolle vertraut sind«, sagt dazu das deutsche Innenministerium. Mit »Kommunikationsmaßnahmen« soll die Bundespolizei auf die erhöhten Wartezeiten und möglichen Gegenmaßnahmen aufmerksam machen.

Um Zeit zu sparen, sollen die Reisenden die Abgabe ihrer Personendaten, Fingerabdrücke und Gesichtsbilder am besten selbst erledigen. Dafür sollen 1892 Übergänge an Land-, Luft- und Seegrenzen mit neuer Biometrietechnik ausgestattet werden. Auch die Bundespolizei stellt dazu insgesamt 500 neue »Selbstbedienungsautomaten« an deutschen Flughäfen auf. Zu welchem Zeitpunkt diese verfügbar sind, bleibt aber unklar. Die Inbetriebnahme hänge »von der Lieferfähigkeit des Auftragnehmers« ab, so das Bundesinnenministerium.

Zusätzlich zu den neuen »Selbstbedienungsautomaten« soll das bereits bestehende Grenzkontrollsystem EasyPass weiterentwickelt werden. Bislang handelt es sich dabei nur um teilautomatisierte Kioske, die von Personen mit einer EU-Staatsangehörigkeit genutzt werden können. Unter bestimmten Umständen kann das deutsche EasyPass-System auch genutzt werden, wenn Reisende aus einem Nicht-EU-Land kommen. Voraussetzung ist, dass der Herkunftsstaat elektronische Reisepässe ausstellt und mit der Bundesregierung eine Gegenseitigkeitserklärung für automatisierte Grenzkontrollverfahren abgeschlossen hat.

Zur weiteren Reduzierung von Wartezeiten hat die EU-Kommission zudem die Einführung einer »Registrierungsapp« angekündigt; das Bundesinnenministerium schreibt dazu von einer »digitalen Web-Anwendung«. Reisende könnten darüber ihre Fingerabdrücke und Gesichtsbilder auf dem eigenen Handy einlesen und vor dem Grenzübertritt an die Behörden des Ziellandes übermitteln. Bislang wurde eine solche App zur »Vorverlagerung der Erfassung von Daten« aber noch nicht veröffentlicht.

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