Letzte Generation in Berlin zeigt sich geeint

Mit der Ausweitung ihrer Proteste erregt die Letzte Generation weiter die Gemüter. Trotzdem zeigt sich die Klimabewegung geeint

  • Louisa Theresa Braun
  • Lesedauer: 10 Min.

Fünf von 16 Klima-Kipppunkten könnten in den kommenden Jahren bereits überschritten werden: Der Grönländische und der Antarktische Eisschild drohen zu schmelzen, die Permafrostböden in Sibirien und Nordkanada aufzutauen. Der Golfstrom könnte durch zunehmende Schmelzwasserzuführung versiegen, Korallenriffe werden sterben. Diese Kippelemente können bereits bei unter zwei Grad Klimaerwärmung ausgelöst werden und würden dann einen gefährlichen Dominoeffekt auslösen, in dessen Folge sich die Erde um vier bis fünf Grad erhitzt. Das würde ein Ende der menschlichen Zivilisation bedeuten.

»In der Landwirtschaft ist die Klimakrise jetzt schon offensichtlich. Und es ist klar, was noch auf uns zukommt: 2040 werden zwei Drittel unserer Ernten ausfallen. Damit haben wir keine Zukunft«, sagt Antonia Vollbrecht. Die 20-jährige Landwirtin aus dem nordrhein-westfälischen Kleve ist Teil der Klimagruppe Letzte Generation und blockiert am frühen Morgen mit vier Mitstreiter*innen die Landsberger Allee in Friedrichshain, um auf den Klimakollaps aufmerksam zu machen. 

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Der Ernst der Lage ist den meisten Menschen wahrscheinlich kaum bewusst. Laut dem Berliner Klimaaktivisten Tadzio Müller leben wir in einer »Verdrängungsgesellschaft«, die die Klimakrise beiseiteschiebt, um den Alltag zu bewältigen. Die erste, an die Bundesregierung gerichtete Forderung der Klimagruppe Extinction Rebellion lautet daher: »Sagt die Wahrheit.« Die existenzielle Bedrohung durch die ökologische Krise, ihre Ursachen und Folgen sollten also klarer als bisher kommuniziert werden – und nicht, als sei der Klimakollaps nur eines neben vielen Problemen. 

Die Letzte Generation weitet diese, im Grundsatz verständliche Forderung auf die Medien aus: »Wir werden in den kommenden Wochen viel Anlass zur Berichterstattung geben«, erklärte Raphael Thelen auf einer Pressekonferenz, bei der die Ausweitung der Straßenblockaden und weitere Proteste angekündigt wurden. Thelen arbeitete bis 2022 als Journalist und ist nun Teil der Letzten Generation. Die Journalist*innen hätten die Wahl, ob sie nur über die Aktionsform oder die vermeintliche Spaltung der Bewegung berichteten – oder ob sie die Proteste zum Anlass nähmen, um über Klimafolgen zu schreiben. Die Medien sollten in dieser Hinsicht ihrer Verantwortung gerecht werden. 

Doch so einfach ist das nicht. Schließlich sind auch Straßenblockaden und Diskussionen, die bereits geführt werden, im öffentlichen Interesse. Auch darüber muss berichtet werden. Der Grönländische Eisschild ist weit weg von der Landsberger Allee, es gibt kaum einen Zusammenhang zwischen Kipppunkt und Straßenblockade. Zwangsläufig drehen sich also viele Berichte um Strategie und Kritik an der Letzten Generation. »Was müssten wir denn tun, damit das anders ist?«, fragt Aktivistin Lina Eichler. 

Tatsächlich sind viele andere Protestformen bereits ausgeschöpft. Fridays for Future versuchte es mit dem Slogan »Hört auf die Wissenschaft« – doch geredet wurde zumindest zu Beginn der Bewegung vor allem übers Schule schwänzen. Ende Gelände blockiert Verursacher der Klimakrise – diskutiert werden Hausfriedensbruch und Sachbeschädigungen in Kohlegruben. 

Und so sitzt Antonia Vollbrecht um 7.30 Uhr in orangefarbener Warnweste mit aufgemaltem Herz auf dem Rücken auf der Landsberger Allee, einem von über 30 Blockadeorten. Ihre Hand ist mit Sekundenkleber auf den Asphalt geklebt. Unablässig wird sie von Autofahrer*innen, die plötzlich im Stau stehen, angehupt und beschimpft. »Scheiß Pack!«, schallt es aus einem Wagen. »Habt ihr sonst nichts zu tun? Habt ihr keinen Job?«, aus einem anderen. Sie könne den Ärger der Menschen verstehen. »Die Einzelnen haben die Klimakrise nicht verschuldet«, sagt Vollbrecht. Trotzdem sollen sie sich damit auseinandersetzen. Zum Teil kommt das an, zum Teil nicht.

Mike Meyer, der an der Landsberger Allee wohnt, sieht den Protest vor allem als »gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr«. Gefährlich sind die Proteste allemal, vor allem für die Aktivist*innen selbst, die in den vergangenen Tagen wie so oft von Autofahrer*innen und zum Teil auch von der Polizei mit Gewalt von der Straße gezogen wurden.

Komplett blockiert ist die Landsberger Allee an diesem Morgen nur für wenige Minuten. Die Polizei ist schnell vor Ort, zwei nicht festgeklebte Aktivist*innen werden an die Seite gebracht, der Verkehr fließt langsam über eine Fahrspur. Innerhalb einer halben Stunde haben Polizisten mit Pinsel und Sonnenblumenöl auch die Hände von Vollbrecht und einem vierten Aktivisten von der Fahrbahn abgelöst. Nur bei Nummer fünf wird es schwierig. Er hat sich mit einer Zementmischung festgeklebt, dafür werden Kollegen mit speziellem Werkzeug herbestellt. Trotzdem sind nun bereits alle Spuren wieder freigegeben. Lediglich ein Polizist steht schützend vor dem letzten Aktivisten, während die Autos dicht an beiden vorbeifahren – einige sehr dicht, viele hupend.

»Der Kleine macht sich doch zum Horst«, findet Mike Meyer. Was genau die Letzte Generation fordert, weiß er nicht, aber man müsse es anders umsetzen. »Ich bin für einen Diskurs«, sagt er, redet aber nicht mit den Aktivist*innen, die direkt neben ihm stehen. Der 51-jährige Verkäufer ist der festen Überzeugung, sie würden »vom System« unterstützt. »Die Leute kriegen irgendwoher Kohle. Sie werden benutzt von anderen, die ein Interesse daran haben, Windräder zu verkaufen«, behauptet er. Währenddessen müssten Menschen wie er zur Arbeit kommen und litten darunter, dass alles immer teurer werde. Dass die Letzte Generation sich auch für soziale Gerechtigkeit starkmacht, ist bei ihm jedenfalls nicht angekommen.

Bei Gabriela Celotto dagegen schon. Sie ist ebenfalls Anwohnerin und begrüßt die Straßenblockaden vor allem, weil sie sich Umverteilung wünscht und eine bessere Zukunft für ihre fünf Kinder. »Es muss sich was ändern. Wir brauchen einen Wandel zu mehr Menschlichkeit«, sagt die 42-Jährige. Sie kritisiert die Gewalt, mit der der Letzten Generation vielerorts begegnet wird, und hält den Verkehrsstau für ein angemessenes Protestmittel: »So viel Zeit muss sein.«

Damit ist sie nicht die Einzige. Die Letzte Generation sprach am Montagnachmittag von großem Zuspruch – es gab Unterstützer*innen-Videos in den sozialen Medien, und auch an der Landsberger Allee ruft eine Fahrradfahrerin den Protestierenden im Vorbeifahren zu: »Macht weiter so!« Ein Beobachter stellt fest, dass zumindest alle eine Meinung zu den Aktionen zu haben scheinen. Wohl auch deshalb wird der Letzten Generation vorgeworfen, die Gesellschaft und die Klimabewegung selbst zu spalten. 

So sagte Irene Mihalic, parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Bundestagsfraktion, vor zwei Wochen, die Letzte Generation bewirke »das Gegenteil dessen, was wir in der aktuellen Lage bräuchten, nämlich eine breite Bewegung in der Gesellschaft für konsequente Klimaschutzpolitik«. Auch Fridays-for-Future-Sprecherin Annika Rittmann äußerte die Ansicht, die Aktionen würden »Menschen im Alltag gegeneinander aufbringen«.

Seitdem ist die Klimabewegung vorsichtig geworden. Der Eindruck der Spaltung soll so schnell wie möglich wieder in Vergessenheit geraten. Alle Teile der Klimagerechtigkeitsbewegung würden sich nach wie vor gegenseitig unterstützten. »Verschiedene Strategien können sich ergänzen. Inhaltlich wollen wir alle dasselbe«, betonte Carla Hinrichs von der Letzten Generation auf der Pressekonferenz vor Protestbeginn. 

Die Bewegungsplattform Movement Hub lud Aktivist*innen diese Woche sogar zu einem Workshop ein, mit dem Titel »So vermeidest du, dich von anderen zu distanzieren«. Geübt wurde, »auf kritische Pressefragen zu antworten, sich solidarisch auf die Aktionen anderer zu beziehen und uns auch unter öffentlichem Druck nicht spalten zu lassen«. Denn: »Soziale Bewegungen werden geschwächt, wenn sie sich gegeneinander ausspielen lassen«, heißt es in der Einladung. 

Um sich mit der Letzten Generation zu solidarisieren, besetzten am Montag auch 40 Aktivist*innen anderer Klimagruppen wie Ende Gelände und Extinction Rebellion die Kleiststraße in Schöneberg. »Wir wollen zeigen: Auch wenn nicht alle Menschen in der Klimabewegung bei allen Aktionsformen der Letzten Generation mitmachen, unterstützen wir ihr Grundanliegen«, erklärt Marit Schatzmann von Parents for Future. Am vergangenen Freitag hatten sich bereits 1400 deutschsprachige Wissenschaftler*innen unter dem Motto »Handeln statt Kriminalisieren« für eine Versachlichung der Debatte sowie eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Forderungen der Letzten Generation ausgesprochen.

»Polarisierung ja, Spaltung nein« ist die Devise. »Unsere Aktionen sind auf konstruktive Spannungen ausgelegt, damit sich jeder positionieren kann«, erklärt Johanna aus Würzburg, nachdem sie als Teil der Letzten Generation die Kniprodestraße in Friedrichshain blockiert hat. Sie glaube nicht, dass sich Menschen vom Klimaschutz abwenden, weil ihnen eine Protestform nicht gefällt. 

Zudem sei klar, dass solch radikaler Protest nicht von allen Aktivist*innen erwartet werden kann. Die Letzte Generation hat angekündigt, von nun an so lange ganz Berlin lahmzulegen, bis die Bundesregierung ihre Forderung erfüllt und einen Gesellschaftsrat einberuft, der sozial gerechte Lösungen für die Klimakrise erarbeitet – egal, ob das Wochen, Monate oder Jahre dauert. Viele können sich nicht leisten, auf so unbestimmte Zeit Arbeit, Uni oder Ausbildung ruhen lassen. Hinzu kommt, dass nach Angaben der Letzten Generation gleich am ersten Protesttag 87 Personen in Polizeigewahrsam gekommen sind. In Heilbronn wurden kürzlich bereits drei Aktivist*innen der Gruppe zu Haftstrafen verurteilt.

Das in Kauf nehmen zu können, sei ein Privileg, bestätigt Leonie Keupp, die für die Proteste ebenfalls aus Würzburg angereist ist. Deshalb tue sie das auch für einen Freund, dem Straßenblockaden bei drohender Gewahrsamnahme nicht möglich sind. »Für uns Ältere ist es leichter. Die Jüngeren müssen ihre Ausbildung unterbrechen, bei uns kommt die Rente sowieso rein«, meint der 73-jährige Ernst Hörmann. »Also müssen wir alles tun, was notwendig ist, damit die jungen Menschen eine Zukunft haben.«

Dennoch will die Letzte Generation nun auch ein niedrigschwelliges Angebot alternativ zum Klebeprotest machen und lädt mehrmals in der Woche zu Protestmärschen ein, bei denen die Straßen durch einen langsamen unangemeldeten Demonstrationszug blockiert werden sollen. Wie gut das funktioniert, bleibt abzuwarten. Am ersten Protesttag werden zwei Gruppen zu je 30 Marschierenden am Roten Rathaus schon innerhalb weniger Minuten von ebenso vielen Polizist*innen eingekreist, teils sehr grob auf den Gehweg gedrängt und am Weiterlaufen gehindert. 

Einladend wirkt das nicht, doch mit der Solidarität läuft es ganz gut. Ein Passant spricht einen Polizisten an, weil dieser Demonstrant*innen geschubst habe; der streitet es ab, beide diskutieren ein wenig. »Ich finde gut, dass es friedlich ist«, sagt der junge Mann anschließend zu »nd«. Seinen Namen will er nicht in der Zeitung lesen. Auch die Forderung nach einem Gesellschaftsrat unterstützt er. Ob er sich anschließen würde, weiß er jedoch nicht. »Die Repression ist schon abschreckend«, findet er. 

Klar ist, dass die Letzte Generation es mit ihren ungehorsamen Aktionen schwerer hat, Sympathie und Mitstreiter*innen zu gewinnen als Fridays for Future. Auch wenn ein Bewusstsein für den drohenden Klimakollaps nicht unbedingt von der Anzahl der Menschen auf der Straße abhängt. Festzuhalten bleibt jedoch, dass noch keine Gruppierung der Klimabewegung ein Patentrezept gefunden hat, um die Regierung zum Handeln zu bewegen. 

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