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Peter von Matt: Das Buch der Stunde
Ein literarisches Buch über Literatur: Peter von Matts »Übeltäter, trockene Schleicher, Lichtgestalten«
Zum Beispiel »Struwwelpeter«, dieses aus pädagogischer Sicht heftig kritisierte, dazu dilettantisch geschriebene und gezeichnete Kinderbuch aus der Biedermeierzeit. Peter von Matt weiß um die Probleme damit, führt sie in seinem Aufsatz zum »Struwwelpeter« auch alle an und gibt der Kritik Recht.
Um dann aber noch andere Facetten vor Augen zu führen. Etwa, dass die im »Struwwelpeter« enthaltenen Zeichnungen dem Realismus auf bezaubernde Weise eine lange Nase zeigen, dass sie Traumqualitäten haben und ästhetische Ansätze der erst hundert Jahre später in Erscheinung tretenden Surrealisten vorwegnehmen. Oder auch, dass Kinder Erwachsene oftmals gar nicht als behütend, sondern als gehörige Schreckensgestalten empfinden – und dass der »Struwwelpeter« derlei Schrecken und Ängsten eine Form verleiht, sie so, eine wunderschöne Weile lang, zu bannen vermag.
Dabei ist der Germanist Peter von Matt nicht objektiv, sondern schlägt sich auf die Seite der kleinen und großen und Literatur-bedürftigen Kinder. Und dies wiederum mit derart mitreißenden Worten, dass man umgehend wieder zum »Struwwelpeter« greifen und sich in die Lektüre versenken möchte.
Ähnlich geht es in seinem Essay über den klassischen Roman »Peter Schlemihl« zu. Dessen Titelheld, den der Wahlberliner Adalbert von Chamisso sich in der aufgewühlten Periode der napoleonischen Kriege ausdachte, hat ein bedrückendes Problem: er wirft keinen Schatten. Mit der Frage, was damit wohl symbolisiert sein mag, stellt von Matt sich in die lange Reihe der Deuter von Chamissos rätselhafter Erzählung. Und arbeitet heraus: das bei Menschen damals wie heute Furcht auslösende Problem der Armut und des Geldverlustes ist nicht gemeint. Der Mann ohne Schatten dringt tiefer. »Die Situation,«, schreibt von Matt, »dass ein zufälliger Passant auf einen zeigt und sagt: ›Dem fehlt der Schatten!‹, muss in seltsamer Weise vertraut sein, obwohl noch niemand sie erlebt hat. Ebenso die Panik, die der Vorgang auslöst. Offenbar wohnt die Furcht vor einem solchen Moment in uns, fast seit wir denken können. Der Schatten steht demnach nicht für etwas Bestimmtes, sondern für ein Spektrum von Möglichkeiten. Alles, was den Einzelnen aus der Gemeinschaft mit den anderen ausschließt, verkörpert sich im fehlenden Schatten.«
Im Fortlauf seines Essays kommt von Matt zu dem Schluss, Chamisso habe einem erschreckenden Phänomen der Moderne in seiner Erzählung poetische Gestalt verliehen, nämlich dem aus der Menschheit ausgeschlossenen und vertriebenen Menschen. Literatur, folgt aus von Matts Befunden, ist ein herrlicher Zeitvertreib, wirklich zu faszinieren vermag sie aber immer dann, wenn sie uns auf Unterweltfahrt mitnimmt, unsere Ängste und unsere Abgründigkeit berührt.
Peter von Matt gehört zu der überschaubaren Anzahl von Literaturwissenschaftler*innen, deren Bücher das breite Publikum erreichen. Das verdankt sich auch deren Themen. Was die Literatur der Jahrhunderte alles über Liebe, über das Familienleben oder Ursachen für Glück und Unglück zu sagen weiß – das interessiert viele. Mehr noch dürfte die Popularität dieses Autors allerdings mit dessen Stil zu tun haben: er schreibt sehr zugänglich, rückt dabei aber kein Mü von seinem hohen Analyse- und Erkenntnisanspruch ab. Mit anderen Worten: Peter von Matt versteht es, mit enormer Belesenheit und Bildung einzunehmen.
Sein neues Buch heißt »Übeltäter, trockene Schleicher, Lichtgestalten«. Es folgt keiner Systematik, die darin enthaltenen Texte sind Vorträge, Essays und Einleitungen; Gelegenheitsarbeiten also. Macht gar nichts, denn alle sind sie Früchte eines langen Leselebens und zusammen eine schöne Reisegelegenheit in abgelegene oder nahe Literaturwelten. Ein Höhepunkt des Bandes ist der weit ausholende Essay über das Verhältnis, welches die Literatur zur Gerechtigkeit unterhält. Einst hat Friedrich Schiller deklariert, dass Theater und Literatur die Defizite der Justiz ausgleichen und wahre Gerechtigkeit sichtbar machen müssten. Gefordert wurde dies zu Zeiten des Absolutismus, als alle Macht sich in Händen des Adels befand, dem auch die Justiz sich unterwarf und so die Gerechtigkeit auf mitunter schreiend skandalöse Weise mit Füßen trat.
Die Idee, dass Bühne und Buch eine Gegenwelt, ein Korrektiv zu ungerechten Gerechtigkeitsinstanzen sein können, das den Menschen mit aufwühlenden Geschichten die Augen zu öffnen vermag, sei freilich keine originär Schiller’sche, meint von Matt, sondern ziehe sich durch die Jahrhunderte. Kleists »Michael Kohlhaas«, Dostojewskis »Verbrechen und Strafe«, Bernhard Schlinks »Der Vorleser« und viele weitere Werke gehörten in diesen Kontext. Anhand von Gerhard Hauptmanns kaum mehr bekannter Komödie »Der Biberpelz« (uraufgeführt 1893) weist von Matt schließlich auf einen zentralen Aspekt hin. Die Heldin dieses Stückes ist nämlich ein solch einnehmender Charakter, dass ihr die Publikumssympathien auch dann noch zufliegen, wenn sie das Recht bricht. Genau gesehen ist der Gegenstand von Hauptmanns Stück die Manipulierbarkeit der Betrachter, werden diese also zur Selbsterkenntnis angehalten. Auch von Matt möchte Leser dazu inspirieren, sich dem Vergnügen an Literatur hemmungslos hinzugeben, zugleich aber immer auch die Kniffe und Tricks von Literaten, modern gesprochen: das Gemachte, das Manipulative von Literatur, in den Blick zu nehmen.
Wenn Peter von Matt nun auf einfühlsame Weise beschreibt, dass Adalbert von Chamisso in seiner Erzählung vom Mann ohne Schatten seine eigene beklemmende Existenznot zum Ausdruck gebracht, aber selbst dennoch niemals die tief reichende Symbolik der von ihm ersonnenen Figur gänzlich begriffen habe; wenn er im »Struwwelpeter«-Essay mit so verständigen wie erhellenden Worten in Kinderseelenzustände eintaucht; oder wenn er über Gedichte nachdenkend diese nicht lediglich interpretiert, sondern sie – zuweilen über Seiten hinweg – in sein Buch hineinmontiert, die jeweiligen Dichter*innen also auch für sich selbst sprechen lässt – dann besitzt sein Buch über Literatur selber bemerkenswerte literarische Qualitäten.
Ein Beitrag führt von Heiner Müller über Ferdinand Freiligrath zurück zu Johann Wolfgang von Goethe. 250 Jahre Deutsche Geistesgeschichte auf nur wenigen, aber glanzvoll verdichteten Seiten. In deren Zentrum William Shakespeare steht. Er hatte die Generation der Lessing, Herder, Goethe einst zu Begeisterungsstürmen hingerissen. In der jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit Shakespeare, bei der Übersetzung seiner Arbeiten, entwickelten sie die moderne Deutsche Sprache, brachten diese zum Klingen. Vor allem aber erkannten die Intellektuellen ihre Hoffnungen und Zweifel, ihre Utopien und ihre Zerrissenheit in Shakespeares Figur des Hamlet wieder. Wellen der Erschütterung durchzogen die deutsche Geisteswelt.
Das ist alles nicht neu, Literaturforscher wie Hans Mayer oder Klaus Reichert haben dazu bereits Profundes bemerkt. Doch bei Peter von Matt zittert diese vor 250 Jahren in Folge von Shakespeare aufgekommene Literaturfaszination noch deutlich spürbar nach. Soll heißen: Hier schreibt jemand, den die im Verschwinden begriffene, ach, eigentlich längst zu Ende gegangene bürgerliche Emphase für Literatur weiterhin antreibt. Eben dies macht »Übeltäter, trockene Schleicher, Lichtgestalten« zu so etwas wie einem Buch der Stunde. Denn bei Peter von Matt lässt sich wie gegenwärtig nirgendwo sonst erleben, was wir an der Literatur eigentlich haben: einen uralten und zugleich stets aktuellen Speicher voller Erzählungen, die sehr viel umfassender als unsere spezialisierten Wissenschaften Auskunft geben können über alles, was Menschen ausmacht, ihre Trieb- und Beweggründe. Ein wunderbares Mittel der Selbsterkundung und Selbstverständigung, sprich: der Aufklärung.
Peter von Matt: Übeltäter, trockene Schleicher, Lichtgestalten – die Möglichleiten der Literatur, Hanser Verlag, 240 S., geb., 26 €.
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