- Kultur
- Theaterstück »Drei Schwestern« am Thalia-Theater
Von Moskau kein Wort
Anne Lenks »Drei Schwestern«-Inszenierung am Hamburger Thalia-Theater ist eine treffsichere Zeichnung bürgerlicher Selbstbespiegelung
Eigentlich wollen Olga, Mascha und Irina ja immer zurück nach Moskau. Sie sind die »Drei Schwestern« aus Anton Tschechows berühmtem Stück, das er selbst als Komödie verstanden wissen wollte. Seit seiner Uraufführung 1901 am Moskauer Künstlertheater ist »Drei Schwestern« international aus den Spielplänen nicht wegzudenken. Auch der russische Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 hat daran nichts geändert.
Das Porträt einer Gesellschaftsschicht, die hilflos ihrem eigenen Untergang entgegensieht, hat allerdings seit Kriegsbeginn manche dazu verführt, mit Tschechow den jüngsten Entwicklungen in der Konkurrenz imperialistischer Staaten nachzuspüren. Anne Lenk, seit 2018/19 Hausregisseurin am Schauspiel des Staatstheaters Nürnberg und ab 2025 Oberspielleiterin bei der künftigen Thalia-Intendantin Sonja Anders, liegt kaum etwas ferner. Am vergangenen Wochenende brachte sie die »Drei Schwestern« am Hamburger Thalia-Theater zur Premiere. Von Moskau ertönt hier kein Wort, statt Olga, Mascha und Irina ringen bei ihr Ortrud, Mechthild und Ingrid mit der Perspektivlosigkeit ihres Lebens in der Provinz.
Den Krieg streichen Lenk und Dramaturgin Susanne Meister, die sich auf die Übersetzung von Angela Schanelec stützen, ihrem Tschechow allerdings nicht völlig. Nur kommt er den Figuren kaum nahe. Major, Oberleutnant, Stabshauptmann und Militärarzt – sie sind wie die drei Schwestern und ihre männliche Entourage eher mit sich selbst befasst als mit Politik. Und mögen die Schwestern auch großherzig Altkleider für die Menschen spenden, die bei der Explosion eines Munitionslagers in Not geraten sind: Die Arbeit damit hat vor allem Anna, das ehemalige Kindermädchen der Familie, die hier über zweieinhalb Stunden in geradezu skandalös gebückter Haltung klaglos ihren Dienst versieht.
Die Reibungen zwischen der Stagnation dieser einigermaßen orientierungslosen Versammlung und den Verwerfungen der Welt um sie herum, zwischen der Sehnsucht nach einem Damals, als Vater noch lebte, und der Unfähigkeit, eine Zukunftsperspektive zu entwickeln, nutzt das durchweg famose Ensemble zu einer hochtourigen Darstellung des Familienlebens, das geprägt ist von dem Verlangen, etwas Bedeutungsvolles zu tun. Es ist die Suche nach Lebenssinn und gleichzeitig die Unfähigkeit, über den eigenen Nabelrand hinauszuschauen.
Judith Oswald hat für das Geschehen einen von grellweiß aufblitzendem Licht gerahmten Guckkasten gebaut, der im ersten und im dritten Teil in romantischem Seeblau, im Mittelteil erdfarben grundiert ist. Sibylle Wallums Kostüme inklusive kühner Föhnfrisuren schillern zwischen Vergangenheit und Zukunft und verankern die Figuren farblich im Bühnenraum – bis auf Naomi (bei Tschechow heißt sie Natalja), die den Laden aufmischt. Sie heiratet Alfred (Andrej), den Bruder der Schwestern, und scheint als einzige Figur imstande zu sein, die Agonie aufzubrechen. Maike Knirsch spielt das in Rosa gekleidet, mit meterlangen Zöpfen und einer hinreißenden Mischung aus Naivität und Brutalität. Dabei ist sie in ihrer Rolle als Übermutter ebenso übergriffig, wie sie als Pragmatikerin tut, was getan werden muss.
Die Überzeichnung der Figuren scheint Tschechows Sympathie für seine Figuren zu konterkarieren. Sie sind schon recht absurde Gestalten bei Lenk. Und doch: Es funktioniert. In ihren Manierismen, in der überdrehten Körperlichkeit ihrer Darstellung sind sie dann doch auch liebenswert. Der wurstig eitle Wirsching kann seine pomadige Verdruckstheit dann beinahe bemitleidenswert ungeschickt überwinden, als seine Gefühle für Mechthild ins Körperliche ausbrechen. Wie überhaupt die Liebesszenen zwischen Alfred und Naomi, Ingrid und Jacobi tiefere emotionale Schichten freilegen.
Doch die romantische Liebe, sie ist, befindet Ortrud, die größte Bedrohung für das Individuum. Weshalb nicht nur für sie auch wenig aus diesen Ausbrüchen folgt. Außer eben bei Alfred und Naomi, die sich aus Einsicht in die Notwendigkeit fügen. Ob das wirklich einen Weg aus der Misere weist, bleibt auch hier offen. Alfred hat eine Hypothek auf das gemeinsame Haus aufgenommen, weil er im Casino alles verloren hat. Immerhin fasst sich Ingrid, die jüngste Schwester, ein Herz und beschließt, an einem anderen Ort Lehrerin zu werden.
Keine Frage, es ist Theater zur Zeit. Aber eben kein Kommentar zum Stand der Konkurrenz imperialistischer Staaten oder Russlands innerer Verfasstheit. Lenks »Drei Schwestern« ist bei aller Überdrehtheit eine treffsichere Zeichnung auch hiesiger bürgerlicher Selbstbespiegelung. Es geht ganz klassisch um die Frage, wie »wir« mit den Krisen der Gegenwart umgehen. Wobei dieses Wir tatsächlich eine beträchtliche Schnittmenge mit dem Publikum haben dürfte. Schon Tschechow schrieb über (klein-)bürgerliche Existenzen, die den Lauf der Dinge – die Revolutionen, die wenige Jahre später die Welt verändern sollten – weder aufhalten noch nachvollziehen können. Eine Revolution steht zwar nicht auf der Tagesordnung. An Krisen herrscht derweil bekanntlich kein Mangel.
Weitere Vorstellungen: 5. und 13. Mai; Tickets unter www.thalia-theater.de
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