Weiterleben, weiterlieben

Ausstellung zeigt Fotografien ukrainischer Geflüchteter von Berlin

Ein Chanukkaleuchter im Fluchtgepäck
Ein Chanukkaleuchter im Fluchtgepäck

Ein Laternenpfahl, eine Obstkiste am Straßenrand, der goldene Stolperstein im Asphalt – viele Details des Stadtbilds fallen den Berlinern selbst kaum noch auf. Anders ist es für diejenigen, die neu in die Stadt kommen. Die Eindrücke können fremd sein, Verwunderung auslösen, aber auch Erinnerungen wecken. Einen Einblick in diese Erfahrungswelt gibt die Ausstellung »Through our Lens« in der Neuen Synagoge an der Oranienburger Straße in Mitte, für die 18 Frauen und Kinder, die aus der Ukraine nach Berlin geflüchtet sind, ihr Ankommen mit Einwegkameras dokumentierten.

Sie sind Jüdinnen und Juden. Im Februar und März 2022 waren sie mit Unterstützung des jüdischen Kulturvereins Masorti gekommen. Dessen Geschäftsführerin Eva Frenzen bricht bei der Eröffnung der Ausstellung im Repräsentantensaal der Neuen Synagoge mehrmals die Stimme, als sie über die dramatischen Tage des Kriegsbeginns spricht. Es habe eine Anfrage des internationalen Dachverbands jüdischer Kulturvereine gegeben, ob Masorti eine Gruppe Geflüchteter unterstützen könne, für die verzweifelt nach einer Unterkunft gesucht werde. »Ohne nachzudenken war unsere Antwort ja«, berichtet Frenzen. Gemeindemitglieder stellten ihr zufolge Gästezimmer oder Wohnungen zur Verfügung. Die Kinder können den Kindergarten und die Grundschule, die Masorti betreibt, besuchen.

»Wir wollten den Ankommenden auch ein jüdisches Zuhause anbieten«, sagt Frenzen. Nur wenige Tage nach der Ankunft der ersten Geflüchteten habe man bereits gemeinsam Shabbat gefeiert. »Sie sind Teil unserer Gemeinde geworden«, sagt Frenzen. »Ob für immer oder nur eine Zeit, wird sich zeigen.«

Aus einem Fotoworkshop mit der Fotografin Inessa Dolinskaia entstand die Idee für die Ausstellung. Sie selbst kam Anfang der 90er Jahre aus Russland nach Berlin – so wie ein Großteil der jüdischen Gemeinde in der Stadt. Man merkt es auch an diesem Abend: Wenn die Fotografinnen, die in ihrer Muttersprache referieren, einen Witz machen, lacht die Mehrheit im Publikum sofort auf, die Minderheit erst nach der Übersetzung.

Viele Fotografinnen und Fotografen – die jüngste ist erst neun Jahre alt – dokumentieren ihre Ankunftsorte, zeigen Hotelfassaden oder mit Möbeln zugestellte Zimmer. Andere zeigen Straßenszenen, manche unbeschwert spielende Kinder. Ein Junge hat die grünen Männchen der Verkehrswacht fotografiert, die auf Schulwege hinweisen. »Genau die gleichen gibt es in Kiew auch«, berichtet er. Manche Bilder zeigen auch nur den blauen Himmel, zu dem man in Berlin sorgenfrei aufblicken kann, während in der Ukraine aus ihm jederzeit Bomben fallen könnten.

Auch das jüdische Leben in Berlin spielt immer wieder eine Rolle. Seien es Bilder von Synagogen oder Gemeindefeiern – oder Fotos von Mahnmalen und Stolpersteinen. Bei manchen Fotografinnen weckte ihre Situation Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, als ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung der Sowjetunion evakuiert wurde. Die Fotografin Daria Starodubsteva berichtet im Ausstellungstext von einem Chanukka-Leuchter, der seit Generationen in der Familie weitergegeben wird. Er wurde schon im Zweiten Weltkrieg mit nach Zentralasien genommen und begleitete die Familie nun auch auf der Flucht nach Berlin. Ein Bild zeigt ihn kurz nach der Ankunft, mit anderen Kultusgegenständen in einem Koffer liegend.

Die Fotografinnen wollten den medial verbreiteten Bildern der Flucht etwas entgegensetzen, sagt Alina Gromova, Kuratorin der Ausstellung. »Sie wollen nicht als Opfer gesehen werden.« Daher zeigten die Bilder vor allem Orte und Gegenstände, die den Fotografinnen Kraft geben. »Manche Bilder sind schön, ohne zu beschönigen, andere traurig, ohne zu dramatisieren«, sagt sie über die Bilder, die am Ende herausgekommen sind.

Eine der Fotografinnen ist Tatyana Bovodina. Sie erlebte den Beginn des Krieges in der umkämpften Stadt Charkiw und schaffte Ende März 2022 die Flucht. »Fotografieren war etwas komplett Neues für mich«, sagt sie. Ihre Bilder zeigen Mützen mit Rollerblade-Motiven, weil ihre Tochter in der Ukraine viel Sport mit diesen Rollschuhen gemacht habe. Für sie symbolisieren die Mützen, dass man als Familie wie ein Team zusammenhalten sollte. Aber auch für das Ankommen stehen die Kopfbedeckungen für sie. »Im Russischen sagt man: Unter einem Hut kann man sich verstecken«, sagt sie. So habe sie sich in den ersten Monaten häufig gefühlt. Die Ausstellung ist für sie ein Ende des Versteckens. »Mit den Bildern zeige ich dem Krieg, dass ich weiterlebe, weiterliebe.«

Bis 8. Oktober, Mo.-Fr. 10-18 Uhr, Sa. 10-19 Uhr, Centrum Judaicum, Oranienburger Straße 28-30 in 10117 Berlin

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