Kein Entkommen

Holger Vanicek berichtet über die innere Zerrissenheit von Albert Camus

  • Christopher Wimmer
  • Lesedauer: 4 Min.

Fünf Menschen planen ein Attentat auf den Großfürsten Sergej, den Onkel des damaligen russischen Zaren Nikolaus II. Wir schreiben das Jahr 1905. Die fünf Sozialrevolutionäre – zu dieser Gruppe gehören die Attentäter – spüren, als ihre Aktion konkretere Gestalt annimmt, jeder für sich, eine innere Zerrissenheit. Stimmt die Handlung mit den gesetzten Zielen überein? Entspricht ein Anschlag den eigenen ethnischen Ansprüchen? Kurz: Ist die radikale Tat mit dem (revolutionären) Gewissen vereinbar? Die Attentäter müssen einerseits ihren eigenen Tod akzeptieren, wenn sie zur Tat schreiten, und andererseits für ihr Ideal selbst zu Mördern werden. Diese Zerrissenheit ist es, die der französische Schriftsteller und Philosoph Albert Camus in seinem Stück »Die Gerechten« (Les justes) von 1949 verarbeitet. Auf der wahren Begebenheit des Attentats beruhend porträtiert Camus die fünf Sozialrevolutionäre und beschreibt, wie ihre eigenen Zweifel, mal eher subtil, mal ganz offen an die Oberfläche dringen.

Mit dieser »Zerrissenheit« beschäftigt sich wiederum Holger Vanicek in seiner gleichnamigen Monographie. Auf rund 200 inhaltlich sehr dichten Seiten stellt er Camus als »Philosoph der Zerrissenheit« vor. Zerrissenheit darf mit jenem jedoch nicht als Psychologisierung missverstanden werden. Denn Camus war sich ganz offensichtlich der Komplexität menschlicher Phänomene bewusst. Zerrissenheit (le déchirement) bezeichnet nicht einfach einen Zwiespalt (le tiraillement), sondern zielt auf jene Entzweiung (le divorce) hin, die ein Mensch nur mit sich allein ausmachen kann.

Vanicek durchsucht Camus’ Werke nach Momenten dieser Zerrissenheit. Sowohl seine Naturbetrachtungen im Frühwerk als auch die Dramen wie eben die »Die Gerechten« oder »Caligula«, aber auch seine bekanntesten Werke, so »Der Fremde« oder »Die Pest«, jenes während der Covid-19-Pandemie so viel gelesene Werk, seien von der Zerrissenheit der Protagonisten bestimmt. Vanicek fokussiert auf den Literaten Camus und behandelt vor allem dessen Erzählungen, Romane und Theaterstücke. Sein Buch ist sehr nah an Camus’ Werk, mit Hunderten Zitaten und Fußnoten. Der Autor, zugleich Präsident der »Albert Camus Gesellschaft«, hat in erster Linie ein Buch für Camus-Kenner und -Liebhaber geschrieben. Kenntnisreich, detailliert und leidenschaftlich, jedoch auch meist ohne große Distanz zum Schriftsteller und dessen Werk verfolgt er seine These und zeichnet so ein facettenreiches Bild von Camus als Denker der Zerrissenheit.

Camus selbst war ein Zerrissener: Als Sohn eines im Ersten Weltkrieg gefallenen Arbeiters und einer menorquinischen Putzfrau wurde er 1913 im algerischen Mondovi, heute Dréan geboren. Er wuchs in einfachsten Verhältnissen auf. Früh tuberkulosekrank, liebte er Fußball und Schwimmen, trat der Kommunistischen Partei bei, studierte Philosophie, ehe er 1940, kurz vor dem deutschen Überfall, nach Paris ging. Während der Besatzung arbeitete er als Autor und Lektor und stieß 1943 zur Widerstandszeitung »Combat«. Dort wurde er zu einer Stimme der Résistance. Nach dem Krieg erschienen »Die Pest« sowie »Die Gerechten«, in denen er sich dem Thema der Revolte zuwandte. In den folgenden Jahren wurde Camus als Romancier, Dramatiker, Philosoph und Aktivist zu einer Pariser Ikone. 1951 folgte die politisch-philosophische Abhandlung »Der Mensch in der Revolte«. 1957 erhielt Camus den Literaturnobelpreis, drei Jahre später starb er bei einem Autounfall.

Die Revolte ist auch Camus’ Versuch, der Zerrissenheit zu entkommen, oder besser: sie auszuhalten, da sie allen Menschen natürlich gegeben sei. Er schreibt: »Die Revolte keimt auf beim Anblick der Unvernunft, vor einem ungerechten und unverständlichen Leben. Aber ihre blinde Wucht fordert die Ordnung inmitten des Chaos und die Einheit inmitten dessen, was sieht und verschwindet. Sie schreit, sie fordert, sie verlangt, dass der Skandal aufhöre und dass zu fester Form zusammentrete, was bisher ohne Unterlass ins Wasser geschrieben wurde. Ihr Ziel ist, umzuformen. Doch Umformen heißt handeln, und handeln heißt morgen töten, während man noch nicht weiß, ob der Mord gestattet ist.« Die Zerrissenheit bleibt auch dann bestehen, selbst wenn der Weg von der (passiven) Empörung zur (aktiven) Auflehnung führt. Somit ist die Revolte auch kein Akt, der alle Missstände beenden soll und kann, sondern viel eher eine Haltung, die man einnimmt. »Der Mensch in der Revolte« kann mit ihr die Gegenwart gestalten, ohne letztlich den Gang der Zukunft bestimmen zu können. Wir alle bleiben somit Zerrissene. Innere Ordnung und Einheit kann es nicht geben, uns ist nur gegeben, damit einen offenen Umgang zu finden.

Holger Vanicek: Die Zerrissenheit. Albert Camus’ Tanz unter dem Schwert. Verlag Graswurzelrevolution, 220 S., br., 17,90 €.

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