- Politik
- »Autoritärer Liberalismus«
Krise in Frankreich: »Gegen Macron und seine Welt«
Der französische Präsident Emmanuel Macron setzt zunehmend einen »autoritären Liberalismus« durch. Für die kommenden sozialen und ökologischen Kämpfe bedeutet das nichts Gutes
Mittlerweile ist es verfassungsrechtlich bestätigt, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat sein Ziel erreicht: Eine Rentenreform zu erzwingen, die den französischen Sozialstaat »konkurrenzfähig« macht und ihn an die bereits seit Jahrzehnten liberalisierten, europäischen Standards anpasst. Sein wirtschaftsliberales Programm hat Macron gegen anhaltende Massenproteste durchgesetzt und damit seinen Regierungsstil zur französischen Variante dessen gemacht, was der Philosoph Grégoire Chamayou als »autoritären Liberalismus« bezeichnet.
Nach einer Stichwahl gegen Marine Le Pen hatte Emmanuel Macron voriges Jahr sein zweites und letztes Mandat in politisch angespannten Verhältnissen begonnen. Oft wurde bei der Präsidentschaftswahl argumentiert, Macron zu wählen sei notwendig, um Le Pen und die extreme Rechte zu stoppen. Spätestens jetzt wird umso deutlicher, dass Macron selbst autoritären Verhältnissen und rechten Diskursen Türen und Tore öffnet. Sein autoritärer Liberalismus schafft eine politische Realität jenseits demokratischer Teilhabe und Grundrechten. Ganz besonders augenscheinlich wird sein verschärfter autoritärer Kurs an seiner Reaktion auf die sich zuspitzenden sozialen und ökologischen Konflikte in Frankreich.
Staatsprojekt Rentenreform
Durchgebracht wurde Macrons Rentenreform mit dem in Europa einmaligen Verfassungsartikel 49.3, der Gesetzeseinführungen ohne parlamentarische Abstimmung ermöglicht. Um sich dem Inkrafttreten der Reform zu widersetzen, bleibt dem Parlament in diesem Fall nur noch das Misstrauensvotum. Gegen die Rentenreform ist das Votum so knapp wie noch nie ausgefallen: Nur neun Stimmen haben gefehlt, um die aktuelle Regierung aufzulösen. Doch trotz der Massendemonstrationen, am 7. März 2023 beispielsweise waren in ganz Frankreich laut der Gewerkschaft CGT rund 3,5 Millionen Menschen auf der Straße, und trotz des Widerstands im Parlament ist das neue Rentengesetz am 15. April 2023, nach verfassungsgerichtlicher Prüfung, in Kraft getreten.
Der Rückgriff auf den Verfassungsparagrafen 49.3 ist nicht neu, die Premierministerin Élisabeth Borne hat ihn insgesamt elfmal genutzt und so auch das neue Finanzgesetz eingeführt. Neu ist allerdings die absolute Kompromisslosigkeit, mit der das Gesetz trotz der weitreichenden Gegenproteste durchgesetzt wurde. Die erpresste Zustimmung des Parlaments, die Weigerung Macrons, mit den Gewerkschaften zu diskutieren und die Polizeigewalt, die bei den Proteste gegen die Rentenreform und die parallel stattfindenden ökologischen Proteste in Sainte-Soline gegen den Bau eines »Méga-bassine« – ein symbolträchtiges und umstrittenes Wassersammelbecken, das von der industriellen Landwirtschaft genutzt werden wird – eingesetzt wurde, stellen ein eine Zäsur dar.
Lange Zeit konnte Macron sich der Unterstützung der bürgerlichen Mitte sicher sein. Der Wind hat sich allerdings gedreht und es wird nun auch in den Kreisen, die ihn anfangs stark unterstützten, Kritik an seinem Regierungsstil laut. Von Anfang an als Präsident mit großem Geltungsbewusstsein beschrieben, gilt er inzwischen als kompromisslos, autoritär und arrogant.
Früh war klar, dass Macron die Reform trotz der breiten Ablehnung und der großen Proteste ohne Dialog mit anderen politischen und sozialen Gruppen durchsetzen würde. Nachdem er während der Diskussion um die Rentenreform seine Premierministerin Élisabeth Borne vorgeschickt hatte und sie den Kampf ausfechten ließ, wandte er sich nach der Proklamation des Gesetzes mit einer Ansprache an die Bevölkerung. Zynisch wirken seine Worte, wenn er von einer Erneuerung der Demokratie spricht, obwohl er sich über Monate hinweg einer Auseinandersetzung mit Gewerkschaft und der Bevölkerung verweigert und Proteste kriminalisiert und repressiv bekämpft hat.
Mehr Demokratie und Polizei
Eine Verbindung von Liberalismus und Autoritarismus zeigt sich auch darin, dass Macron von hohlen Ausführungen zur allgemeinen Sinn- und Demokratiekrise in Frankreich direkt zum Versprechen überging, die französische Polizei und Justiz neu auszustatten. Damit ist endgültig klar, auf wessen Seite er steht. Denn spätestens seit Adama Traorés Tod 2016 in Polizeigewahrsam und der Gelbwestenbewegung 2018 herrscht in der französischen Öffentlichkeit ein Bewusstsein dafür, dass die französische Polizei zu den gewalttätigsten und tödlichsten Polizeien Europas gehört.
Nicht nur die Proteste gegen die Rentenreform waren enormen Übergriffen der Polizei ausgesetzt. Auch und gerade die Demonstration am 25. März 2023 im Departement Deux-Sèvres gegen ein »Méga-bassine« – die sich in einen Kontext von unterschiedlichen ökologische Kämpfen in Frankreich einreiht –, war von brutaler Polizeigewalt geprägt. Eine Person, die von einer nicht reglementiert abgeschossenen Tränengasgranate schwer am Kopf getroffen wurde, war noch in der vergangenen Woche nicht wieder bei Bewusstsein und ihr Zustand ist immer noch kritisch.
Diese polizeilichen Übergriffe finden nicht im luftleeren Raum statt, sondern werden gerechtfertigt durch politische Diskurse, die mithilfe von Begriffen wie »Ökoterrorismus« oder »intellektueller Terrorismus« klare Feindbilder schaffen. Besonders Macrons Innenminister Gérald Darmanin, Repräsentant des rechten Flügels der Regierungspartei Renaissance verwendet diese Diskursstrategien. So hat er beispielsweise am Vortrag der Demonstration in Sainte-Soline in einem Interview verlauten lassen, dass die Öffentlichkeit mit »extrem gewalttätigen Bildern« zu rechnen habe. Solche Stellungnahmen können nur als Drohung verstanden werden – insbesondere, wenn man weiß, dass die französische Polizei nicht auf Deeskalationsstrategien, sondern auf Konfrontation setzt.
Selbst gemachte autoritäre Wende
Ebenfalls symptomatisch für das Verständnis der Regierung von demokratischen Debatten: der Umgang mit der Ligue des Droits de l’Homme, einer bürgerlichen Nichtregierungsorganisation. Diese hatte die Telefongespräche zwischen Demonstrierenden und der Rettungswagenzentrale in Sainte-Soline aufgenommen und veröffentlicht. Aus den Telefonaten geht hervor, dass die Gendarmerie Krankenwagen nicht zu verletzten Demonstrant*innen durchgelassen hatte. Inzwischen wurde diese Aussage vom Sprecher des Dienstes für medizinische Nothilfe relativiert, er spricht nur noch von »schwierigen Bergungsverhältnissen« vor Ort.
Doch anstatt diese sich möglicherweise widersprechenden Aussagen zu überprüfen, wurde die Ligue des Droits de l’Homme vom Innenminister Gérald Darmanin scharf für die Veröffentlichung des aufgezeichneten Telefongesprächs kritisiert. Er kündigte an, die öffentliche Finanzierung der Nichtregierungsorganisation überprüfen lassen zu wollen. Unter ähnlichem Druck befindet sich inzwischen auch die Organisation Les Soulèvements de la Terre. Als Mitorganisatorin der Proteste in Sainte-Soline und wichtiges Netzwerk für unterschiedliche ökologische Kämpfe, wurde ihr nach der großen Demonstration am 25. März von Darmanin mit der Auflösung gedroht.
Die Situation ist beunruhigend. Die Regierung kriminalisiert die Proteste kriminalisiert und versucht, sie zu spalten; es werden Bürgerkriegsszenarien herbei fantasiert, um anschließend brutale Polizeieinsätze zu rechtfertigen. Und immer wieder werden Versammlungsfreiheit und demokratische Institutionen von staatlicher Seite aus angegriffen. All das zeigt die Bedrängnis der liberalen Regierung Macrons, die durch ihre Maßnahmen jedoch die autoritäre Wende bereits vorwegnimmt. Macron ebnet so den Weg für die extreme Rechte.
»Diese Regierung schafft«, wie Mediapart-Journalist Edwy Plenel schreibt, »politisch eine Leere, in der nur noch die extreme Rechte bleibt – als Alternative oder als Partner«. Damit benennt er präzise die Gefahr der momentanen Situation. Macrons kompromissloser Regierungsstil und der Rückgriff auf rechte Rhetorik schaffen ein politisch angespanntes Klima, in dem der politische Feind nicht mehr die Rechte, sondern die Linke ist. Das lässt zwei Möglichkeiten zu: Entweder bekommen die ohnehin sehr präsenten rechten Diskurse mehr und mehr Raum innerhalb von Macrons Partei, womit die Rechte zum potenziellen Partner würde. Oder aber Le Pens Rassemblement National schafft es, dieses Klima für sich zu nutzen und sich als reale Alternative zu stilisieren.
Die Kämpfe gehen weiter
Aber auch wenn der Kampf gegen die Rentenreform gescheitert ist: Ein Ende der Mobilisierung gegen Macrons autoritären Liberalismus ist nicht abzusehen. Die Proteste gegen die Aushöhlung des Wohlfahrts- und Rechtsstaats in Frankreich gehen längst über ihren ursprünglichen Anlass hinaus, das hat selbst Macron erkannt. Die Kämpfe sind, wie eine derzeit beliebte Demo-Parole verdeutlicht, »gegen Macron und seine Welt« gerichtet, kritisieren Lohnarbeit und grünen Kapitalismus. Die ökologische Bewegung fordert ebenso wie die Proteste gegen die Rentenreform ein Leben, in dessen Mittelpunkt nicht Lohnarbeit und Konsum stehen. Dem Verwaltungsstaat der Kapitalinteressen wird die Forderung nach Mit- und Selbstbestimmung entgegengesetzt.
Macron hingegen zieht seine Programm unbeirrt weiter durch. Der Polizei und Justiz verspricht er mehr Geld, koppelt die Gehaltserhöhung der Lehrer*innen an mehr Arbeit (die französischen Lehrer*innengehälter gehören zu den niedrigsten in Europa) und lässt seinen Innen- und Arbeitsminister Olivier Dussopt einen neuen und äußerst umstrittenen Gesetzesentwurf zur »illegalen Einwanderung« vorbereiten. Während die parlamentarische Debatte um das Gesetz nach einigem Hin und Her erst einmal bis in den Herbst verschoben worden ist, bleibt allerdings unklar, wie dieses Gesetz durchgebracht werden soll. Ein weiterer Rückgriff auf den Artikel 49.3 scheint nicht ausgeschlossen, obwohl Premierministerin Borne ihn nach der Rentenreform angeblich nur noch für Budgetfragen verwenden wollte.
Seitens der Regierung gibt es also keine Antworten auf die von einer breiten Bewegung getragenen sozialen und ökologischen Forderungen. Für die Proteste »gegen Macron und seine Welt« steht umso mehr auf dem Spiel: Schafft die Protestbewegung es, ihre Einheit gegen die Spaltungsversuche seitens der Regierung beizubehalten, einen Gegenentwurf zum Erstarken rechtsextremer Positionen zu entwerfen – und damit eine kritische Opposition zu werden, die Macron und seiner Welt Einhalt gebieten kann?
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.