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Überschwang und Todeskuss bei Neapels Meisterschaftsfeier
Fußballklub SSC Neapel wird in Udine vorzeitig italienischer Meister. Bei den Feierlichkeiten kam allerdings auch ein Mensch ums Leben
Mitten im Mai brach plötzlich Silvester aus. Kaum war der Schlusspfiff in Udine verhallt und mit dem 1:1 zwischen dem SSC Neapel und Udinese Calcio auch die mathematische Gewissheit erreicht, dass niemand mehr dem Klub aus Neapel die Meisterschaft streitig machen konnte, da erhellten Feuerwerkskörper weite Teile des städtischen Areals am Fuße des Vesuv. Raketen stiegen gen Himmel. Bengalos wurden gezündet, sodass die Straßen der Altstadt in rotes Licht getaucht schienen. Das klassische Hupen der Mopeds und Autos war hingegen nicht zu vernehmen. Die Stadtverwaltung hatte in Vorahnung der Feierlichkeiten weite Teile der Stadt für den Fahrzeugverkehr gesperrt. Das kleine neapolitanische Wunder: Alle hielten sich daran.
Für die Hupkonzerte sorgten dann Neapolitaner, die in andere Städte gezogen waren, nach Mailand und Turin vor allem. Aber auch in Udine, wohin Zehntausende ihr Team zum entscheidenden Spiel begleitet hatten. Überall dort erklang auch bis in den Morgengrauen aus von Stunde zu Stunde heiserer werdenden Kehlen der Gesang: »Campioni dell’Italia siamo noi!« – Italiens Meister, das sind wir!
Lange 33 Jahre hatten die Fans auf eine solche Gelegenheit warten müssen. Mehrfach war Neapel in dieser Zeit ganz nah dran am Scudetto, dem Schild, das traditionell dem Meister verliehen wird. Viermal wurde das Team Zweiter in den letzten zehn Jahren, dreimal Dritter. Am nächsten kam Neapel diesem Ziel 2018, damals unter Maurizio Sarri, genannt Comandante, wegen seiner – für italienische Verhältnisse – revolutionär offensiven Spielauffassung, und wegen des Großvaters, der als Partisan in den Bergen gegen deutsche und italienische Faschisten gekämpft hatte. Vier Punkte fehlten damals auf Meister Juventus. Jetzt ist Neapel fünf Tage vor Schluss bereits Meister, vor Sarri übrigens, dem alten Erfolgstrainer, der mittlerweile Lazio Rom Champions-League-fähig macht.
Die Sarri’sche Spielkultur hat Neapel beibehalten. Es ist mehr Elastizität hinzugekommen unter Carlo Ancelotti, dem ewigen Königlichen aus Madrid, der auch einmal zwei Spielzeiten nach Sarri unterm Vesuv tätig war.
Das größte Verdienst in der illustren Trainergilde hat sich aber Luciano Spalletti erworben, der aktuelle Coach, der in Udine nach dem Spiel das Wasser in den Augen nicht halten konnte. Spalletti, 64 Jahre alt und gestählt durch die Auseinandersetzungen mit Francesco Totti in seiner Zeit beim AS Rom, abgehärtet auch in der russischen Meisterschaft, in der er Zenit St. Petersburg zum Titel führte, weinte übrigens nicht, als es um die Erfolge ging, um das, was er und seine Spieler geleistet hatten. Nein, die Tränen kamen, als er sich bei seiner Familie bedanken wollte, bei seiner Tochter, seinem verstorbenen Bruder.
Das kann man gleich als doppeltes Zeichen deuten. Zum einen als Beleg dafür, wie sehr Spalletti, der in den letzten Monaten quasi als Eremit auf dem Trainingsgelände des SSC Neapel gelebt hat, seine eigene Familie vermisst haben muss. Und zum anderen, dass es ihm gelungen ist, eine ganz andere Familie zu gründen: nämlich die Mannschaft des SSC Neapel zu einer Familie zusammenzuschweißen, in der einer für den anderen einsteht. In der Stürmer Victor Osimhen nicht nur Tor um Tor erzielte – sein 22. Treffer zum 1:1 in Udine war zugleich der die Meisterschaft entscheidende. Nein, Osimhen war sich auch nicht zu schade, zurückzueilen, wenn sein zum Saisonfinale sichtlich ermatteter Teamkollege Khvicha Kvaratskhelia mal wieder den Ball verloren hatte. Da wurde nicht gemeckert bei Ballverlust, nicht die Arme in gespieltem oder authentisch empfundenem Entsetzen hochgerissen. Da wurde gekämpft, stoisch gegen den Ball gearbeitet, um dann, wenn das Spielgerät in den eigenen Reihen war, es zu streicheln, als Freund zu behandeln, als Kostbarkeit, die man gerne weitergibt und sie dann auch ins Tor trägt. Oder besser, wenn man an die Schussgewalt von Osimhen denkt, ins Netz wuchtet.
Der Georgier Kvaratskhelia war – ungeachtet seiner Erschöpfung in den letzten Spielen – der zweite wichtige Faktor neben Torjäger Osimhen. Seine Dribblings auf Linksaußen rissen Löcher in den gegnerischen Abwehrverbund. »Er öffnet Räume für uns, die vorher gar nicht vorhanden schienen«, lobte ihn Trainer Spalletti. Mittelfeldlenker Stanislav Lobotka war die dritte Säule. Der Slowake – Landsmann übrigens des früheren Napoli-Idols Marek Hamšík – wurde von früheren Trainern schmählich ignoriert. Unter Spalletti wurde der kleine und gedrungen wirkende Spieler zum unermüdlichen Ballverteiler und Motor der Offensive sowie zum humorlosen Abräumer vor der Viererkette bei gegnerischen Angriffsbemühungen. »Er ist der Spieler, der bei Neapel den Unterschied ausmacht. Alle anderen kann man ersetzen, auch Osimhen. Aber Lobotka ist einzigartig«, lobte ihn überschwänglich Antonio Cassano, das einstige Enfant terrible des italienischen Fußballs.
Auch Kim Min-jae muss man nennen, die spielende Abwehrwand aus Südkorea. Der Neuzugang stabilisierte nicht nur die Innenverteidigung. Er ist auch für Sturmläufe und das Spiel eröffnende lange Bälle gut. Nicht zuletzt steigerte sich der technisch limitierte Außenverteidiger Giovanni Di Lorenzo mit Herz und Leidenschaft in eine Antreiberrolle hinein, die ihm nicht nur die Kapitänsbinde in diesem Ensemble einbrachte, sondern auch landesweiten Respekt dafür, wie er aus seinen Möglichkeiten das Maximale herausgeholt hat.
Der Meister aber, der Dirigent, ja der Demiurg, ist Luciano Spalletti. Er nutzte die Umbruchsituation nach dem Weggang von Leistungsträgern wie Rekordtorschütze Dries Mertens, Abwehrrecke Kalidou Koulibaly und Lokalmatador Lorenzo Insigne, um aus zuvor entweder völlig unbekannten oder massiv unterschätzten Spielern ein Ensemble zu formen, das in Italien gewinnt und auf europäischer Ebene begeistert.
In die Feierstimmung mischte sich freilich auch Trauer. Mehrere Verletzte und sogar ein Toter sind nach der tollen Nacht in Neapel zu beklagen. Unklar ist noch, ob es sich um die Folge einer aus dem Ruder gelaufenen Festsituation handelt oder das bewusste Ausnutzen des Chaos für eine länger geplante Abrechnung. Laut italienischen Medienberichten soll das Opfer Sohn eines Mafiabosses sein. Auf jeden Fall ist es ein tragischer Epilog eines Fußballmärchens.
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