Nautilus: »Immer im Spiel bleiben«

Hanna Mittelstädt ist Mitbegründerin der Edition Nautilus und veröffentlichte nun eine Verlagschronik. Ein Gespräch über Widersprüche der Selbstorganisierung und revolutionäre Literatur

  • INTERVIEW: Stefanie Retzlaff
  • Lesedauer: 9 Min.
Auch ein bisschen Spaß muss das Ganze machen: Hanna Mittelstädt und Genossen in den frühen 70er Jahren.
Auch ein bisschen Spaß muss das Ganze machen: Hanna Mittelstädt und Genossen in den frühen 70er Jahren.

Frau Mittelstädt, Sie haben in Ihrem neuen Buch die Geschichte der Edition Nautilus in Form einer »subjektiven Chronik« aufgearbeitet. Wie kam es dazu und wie haben Sie das umgesetzt?

Der Anlass war der Tod meines Lebensgefährten und Verlagsmitgründers Lutz Schulenburg. Er starb ganz überraschend am 1. Mai 2013. Andererseits kam es für mich nicht überraschend, mit der Verlagsarbeit aufzuhören. Ich war zum Zeitpunkt seines Todes schon etwas über 60 und hatte sowieso vor, zu reduzieren, was aber mit Lutz zusammen nicht ging. Er konnte sehr schlecht loslassen. Und so habe ich dann seinen Tod zum Anlass genommen, den Mitarbeiter*innen zu sagen, dass für mich die Zeit im Verlag zu Ende ist und ihnen nach einer Übergangszeit von 2013 bis 2016 den Verlag übergebe. Sie führen ihn jetzt weiter. Für mich war aber klar, dass damit eine andere Zeit beginnt. Dieses Unternehmen heißt noch Edition Nautilus, aber es ist natürlich etwas anderes als das, womit wir vor 50 Jahren begonnen haben.
Wir haben ja 1973 angefangen mit dem ersten Programm und waren gerade einmal Anfang Zwanzig. Die ganze Haltung, also die Involviertheit in dieses Projekt, war ganz anders als es heute für die Nachfolger*innen ist, aber auch für ähnlich geartete Verlage. Und deshalb wollte ich gerne, dass etwas bleibt von unseren Anfängen. Und dieses Etwas habe ich in Form des Erinnerungsbuches geschrieben. Dabei habe ich versucht, die Geschichte des kollektiven Gewebes, in dem wir uns befanden, auch im Schreiben deutlich werden zu lassen. Ich hatte 40 Verlagskorrespondenzordner, angefangen von 1971/72 bis ins Jahr 1996, danach begann die Zeit des Internets und der Mails. Diese 40 Ordner bin ich alle noch einmal durchgegangen und habe darin sehr schöne Stellen in den Briefen gefunden. Da ich allerdings nicht wollte, dass das nur eine reine Erzählung von damals wird, habe ich sie mit meinem Blick von heute verschränkt.

Das Verlagskollektiv hat Anfang der 70er Jahre situationistische Texte wie zum Beispiel die Zeitschrift der Situationistischen Internationale übersetzt und herausgegeben. Welche Rolle hat das für den Verlag als politisches Projekt gespielt?

Ja, das war sozusagen unser Nährboden. Wir waren zu dritt – Lutz Schulenburg hatte das Ganze zunächst mit Pierre Gallissaires, dem dritten Nautilus-Gründer, begonnen. Die beiden hatten sich 1971 schon in anarchistischen Kreisen getroffen. Ich kam Ende 1972 dazu. Sie hatten angefangen mit einer Zeitschrift, die »MaD – Materialien, Analysen, Dokumente« hieß. Pierre, der zwanzig Jahre älter war als wir, kam aus dem niedergeschlagenen Mai 1968 in Frankreich – nicht aus Paris, sondern aus Bordeaux, und hatte große Lust, die Ideen und Impulse des Mai 1968 weiterzutragen, was aber in Frankreich nicht ging.
Dort war die Stimmung durch diese Niederlage so verbaut, dass er sich dazu entschied, nach Deutschland zu gehen, um sich ein Bild davon zu machen, wie die jungen Anarchistinnen und Anarchisten hier aufgestellt sind. Wir kannten die Situationisten überhaupt nicht, das brachte Pierre alles mit. Die Situationisten waren im Mai 1968 in Frankreich sehr wichtig, weil die Frage der Verschränkung von Politik, Alltagsleben und Kunst für sie ein zentrales Spielfeld war. Deshalb unterschieden sich auch die Aktionsmittel stark von den üblichen linken Formen, also von den Demonstrationen, Parolen, Transparenten und Fahnen. Nun gab es Comics, es gab zweckentfremdete Plakate, es gab eine Explosion von Wortspielen, die ausdrückten, was das für eine revolutionäre Situation damals war.
Also dieses Herankommen ans Intuitive, das Rausgehen aus den Institutionen, aus den vorgefertigten Ideen von politischer Bewegung – das haben uns die Situationisten gebracht. Sie haben 1955 bis 1969 agiert und auch eine Zeitschrift herausgegeben und wir drei, also Pierre, Lutz und ich, haben dann sämtliche Nummern dieser »Situationistischen Internationale« übersetzt, von vorne bis hinten. Das ist einmalig auf der ganzen Welt, glaube ich (lacht), dass diese Zeitschrift vollständig, mit jeder popeligen Glosse, übersetzt wurde. Das war sozusagen unsere Bildung, damit haben wir angefangen, uns auf eigene Wege zu begeben und eine eigene politische Aussagekraft zu formulieren. Die Ideen der Situationisten waren eine der Hauptströmungen des Verlags.

Was waren sonst noch große verlegerische Herzensprojekte für Sie?

Angefangen hat es mit anarchistisch-rätekommunistischen Texten, historischen, aber auch aktuellen. Die Verbindung zu solchen politischen Aktivitäten und revolutionärem Verständnis war in Deutschland ja durch den Faschismus zerstört. Und was den Verlag dann später sehr stark beschäftigt hat, war das Werk von Franz Jung, einem Autor, von dem wir eigentlich nur seine Autobiografie »Der Weg nach unten« kannten. Dissidentische Forscher aus Ost- und Westdeutschland versuchten, diesen Autor wiederzuentdecken und wieder verfügbar zu machen. Er war ja einerseits »literarischer Avantgardist«, wenn ich das mal so sagen darf: Sein »Trottelbuch« von 1912 war ein erster expressionistischer Roman.
Franz Jung hat in der deutschen Revolution 1918–19 gekämpft, auch im nachrevolutionären Russland mitgearbeitet. Er hat da 1921 mit deutschem Know-how eine Streichholzfabrik aufgebaut, wurde dann allerdings rausgeschmissen und floh zurück nach Deutschland. Nach den Einkesselungen durch den Faschismus, nach seinen Fluchten und seinem Exil hat er einen Rückblick auf diese Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrieben. Sie erschien 1961 und ist voller Selbstkritik, voller Kritik an allen Strömungen, an denen er auch selbst beteiligt war. Und dieser selbstanalytische Versuch, zu einem anderen revolutionären Verständnis zu kommen, war für uns sehr interessant. Wir haben dann angefangen, Jungs gesamtes Werk zu veröffentlichen – 6000 Seiten. Wir wussten natürlich nicht im Voraus, dass es so viel Material gibt. Wir haben aus Begeisterung zugesagt, diese Ausgabe zu machen, und dann mussten wir sie auch machen (lacht). Aber es war trotz des ökonomischen Wahnsinns so, dass wir das mit sehr viel persönlichem Gewinn gemacht haben. Inhaltlich würde ich sagen, sind die Situationisten und Franz Jung die absoluten Schwergewichte unseres Programms.

Die Parole des Pariser Mai 1968 »Ne travaillez jamais!« [zu deutsch: Arbeitet nie!] ist titelgebend für Ihr Buch. Der Verlag war diesem Leitspruch folgend ein politisches Projekt, das ein anderes Leben jenseits von Lohnarbeit und kapitalistischen Verwertungslogiken ermöglichen sollte. Sind solche Zwänge dennoch in den Verlagsalltag eingebrochen und wie sind sie alle damit umgegangen?

Das ist eine Parole aus dem Mai 1968, die die Situationisten schon 1953 an einer Mauer in Paris gefunden haben und so begeisternd fanden, dass sie sie weiterverbreitet haben. Damals waren die Situationisten noch mehr oder weniger Herumtreiber, so eine Art Punks der damaligen Zeit. Für uns war das inspirierend, weil wir in der kapitalistischen Gesellschaft auch nicht mitmachen wollten – weder mit unserer Arbeitskraft noch mit unserem Geist oder unserer Intelligenz. Das haben wir geschafft, indem wir diesen Verlag 40 Jahre mit sehr interessanten Büchern bestückt haben (lacht) und so der Leserschaft Material dafür gegeben haben, sich dieser kapitalistischen Welt zu entziehen.
Aber natürlich sind wir den kapitalistischen Zwängen voll ausgesetzt gewesen. Als wir mit 20 mit dem Verlag anfingen, fehlte uns ja nicht nur die Kompetenz, sondern wir hatten auch kein Kapital. Wir haben daher versucht, die Bücher, die wir machen wollten, durch andere Bücher zu finanzieren, die sich gut verkauften oder durch irgendwelche guten Ideen, die wir oder unser Umfeld hatten. Das war streckenweise echt hart. Ja, aber man kann natürlich im Falschen, also in der Warengesellschaft, kein Leben führen, das wirklich frei und glücklich ist, ohne diesen Zwängen ausgesetzt zu sein. Wir waren das eben auch und haben versucht, immer im Spiel, also beweglich zu bleiben, nicht zu verzweifeln, nicht borniert zu werden, nicht Recht haben zu wollen, sondern immer zu gucken, wo können wir wieder Lust gewinnen, wo können wir wieder mit neuen Menschen zusammenarbeiten, die leidenschaftlich losgehen. Es war bis zum Schluss so, dass wir immer wieder gerne mit jungen Autorinnen und Autoren zusammengearbeitet haben. Wir haben immer wieder eine Resonanz unserer Anfänge in diesen jüngeren Menschen und ihren Vorhaben gesehen. Und das war eigentlich sehr schön.

Sie schreiben an einer Stelle im Buch, dass die »Pflege der Verweigerungshaltung anderer« keineswegs immer heiter gewesen sei. Haben Mechanismen vergeschlechtlichter Arbeitsteilung im Verlagsalltag eine Rolle gespielt?

Ich habe das eigentlich nicht geschlechtlich definiert, sondern wir drei aus dem Kern waren derartig unterschiedliche Temperamente, wobei ich die Rolle der Vernunft und auch die Rolle der Ökonomin hatte (lacht). Ich hatte auch die Rolle der Entscheiderin. Ich kann das schwer geschlechtlich zuordnen, weil es – wenn man so will – auch männlich ist, ökonomische Entscheidungen zu treffen, immer wieder auszusortieren, was weg kann und was gemacht wird. Gut, also Lutz war ein wahnsinniger Chaot, Legastheniker, aber sehr kreativ, und Pierre brachte einfach durch sein Alter, durch die 20 Jahre mehr an Erfahrung, sehr viel Kompetenz mit. Er hat uns die Surrealisten, die Dadaisten, die französische Literatur und alles Mögliche andere eröffnet. Das kannten wir ja alles nicht. In diesem Dreierteam war ich diejenige, die quasi die Hosen anhatte (lacht) und die Jungs trugen Kleider. Inzwischen ist es so, dass der Verlag fast nur aus Frauen besteht, vier Frauen und ein Mann haben übernommen und bilden derzeit das Verlagskollektiv.

Mich haben an der von Ihnen dokumentierten Verlagskorrespondenz besonders die sehr eigensinnig schönen Briefe von Lutz Schulenburg fasziniert. Hätte er selbst gerne literarisch gearbeitet und falls ja, was denken Sie, welches Buch er hätte schreiben wollen?

Er sagt an einer Stelle, er wäre gerne ein Karl May der Jetztzeit geworden (lacht), und zwar nicht um die revolutionären Ideen zu verflachen, sondern um anders an das revolutionäre Potenzial heranzukommen, an die Imagination, um barrierefrei an den Veränderungswunsch der Menschen heranzukommen, um sich sozusagen einzuschmeicheln in Richtung: Traut euch, macht es anders, ihr braucht diesen ganzen Staat nicht! Das hätte er vielleicht gerne gemacht. Er hat davon geträumt, hat es aber nicht durchgesetzt. Das Einzige, womit er sich eine Zeit lang neben den Arbeiten an der »Aktion«, für die er Hauptredakteur war, beschäftigt hat, ist ein Buch über den Mai 1968. Das ist eine Collage, sie heißt »Das Leben ändern, die Welt verändern«. Darin fächert er den Mai 1968 international auf, mit einer ungeheuren Vielfalt und Freude und ganz begeisternden Strömungen. Ich finde, er hatte ein wahnsinniges Talent zum Witz, auch die Briefe sind zum Teil ja urkomisch. Er konnte sich auch urkomisch selbst inszenieren. Das war natürlich auch ganz toll, aber während er gelebt hat – er ist mit 60 gestorben – hat die Zeit nicht gereicht, um sich für etwas anderes zu entscheiden als für das, was er gemacht hat.

Seit 2016 sind Sie nicht mehr Teil des Verlags. Wie sehen Sie die Zukunft der Edition Nautilus, was stimmt Sie optimistisch?

Die jüngeren Menschen, die den Verlag jetzt weitermachen, haben auch eine Aura übernommen, eine ganze Geschichte. Dadurch sind sie auf bestimmte Weise stark: Sie fangen nicht bei null an, sondern haben 40 Jahre Verlagsgeschichte im Gepäck. Außerdem sind sie wesentlich kompetenter gestartet als wir und sind sehr professionell. Eigentlich haben sie also einen guten Start und sind völlig frei, ihre Zukunft zu wählen. Und ich selbst bin erstmals in meinem erwachsenen Leben frei, ein Leben ohne Verlag zu gestalten.

Hanna Mittelstädt: Arbeitet nie! Die Erfindung eines anderen Lebens. Chronik eines Verlags. Edition Nautilus 2023, br., 360 S., 28 €.

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