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Erdoğans Krieg in Syrien
2022 hat die Türkei das Bürgerkriegsland Syrien 130-mal mit Drohnen angegriffen – dabei starben mindestens 87 Menschen
Die Türkei befindet sich im Wahlkampfendspurt. Am 14. Mai werden sowohl ein neues Parlament als auch ein neuer Präsident gewählt. Der Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan hofft auf seine Wiederwahl und baut vor allem auf die Stimmen nationalistischer Wähler*innen. Für sie hatte er bereits Mitte Mai eine besondere – 230 Meter lange und 32 Meter breite – Überraschung parat: Stolz präsendierte Erdoğan einen eigenen türkischen Flugzeugträger. Auf dem Kriegsschiff »TCG Anadolu« könnten sowohl Drohnen als auch schwere Helikopter starten und landen, sagte Erdoğan bei der Einweihung des Flugzeugträgers. »Unser Schiff ist so ausgestattet, dass wir bei Bedarf militärische und humanitäre Einsätze in allen Teilen der Welt durchführen können«, so der Staatspräsident.
Unter Erdoğan hat die Türkei in den letzten Jahren eine immer aggressivere Außenpolitik verfolgt und ist an zahlreichen regionalen Konflikten aktiv beteiligt. Bei diesen Einsätzen spielen Kampfdrohnen eine herausragende Rolle. Besonders betroffen ist der Norden und Osten des Bürgerkriegslandes Syrien. »Im Jahr 2022 kam es in Nord- und Ostsyrien zu insgesamt 130 türkischen Drohnenangriffen, bei denen 87 Menschen getötet und 151 Menschen verletzt wurden«, schreibt dazu die unabhängige Medienorganisation Rojava Information Center (RIC), die in der nordsyrischen Stadt Qamischli ihren Sitz hat und die Angriffe vor Ort dokumentierte. Da das RIC nur bestätigte Fälle in seine Statistik aufnimmt, dürfte die Zahl noch deutlich höher liegen.
Warum greift die Türkei diesen Landstrich, der auch als Rojava bekannt ist, so häufig an? Rojava steht nicht unter Kontrolle des syrischen Machthabers Baschar al-Assad, sondern ist selbstverwaltet. In der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien – so die offizielle Bezeichnung – haben sowohl Kurden und Araber als auch Christen und Jesiden zusammen ein System aufgebaut, das auf Basisdemokratie, Geschlechtergerechtigkeit und Ökologie beruht.
Erdoğan sieht in diesem Projekt einen Ableger der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK und bekämpft Rojava daher. Die Selbstverwaltung stelle eine »terroristische Bedrohung« dar, bekräftigte er wiederholt. Ankara hat bereits seit 2016 in drei Angriffskriegen große Teile Rojavas annektiert. Diese Invasionen wurden unter anderem vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestags als völkerrechtswidrig eingestuft.
2022 weitete die Türkei ihre Attacken auf die Region massiv aus. »Gegenüber 89 Angriffen 2021 stellen die Angriffe von 2022 eine fast 50-prozentige Steigerung dar«, heißt es weiter vom RIC. Daher herrscht in Rojava seit Juni 2022 ein offizieller Ausnahmezustand. Die Bevölkerung ist in Alarmbereitschaft, Sport- und andere öffentliche Veranstaltungen finden nicht oder nur unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen statt, Krankenhäuser und Lokalverwaltungen bereiten sich auf eine weitere Invasion vor.
Die türkischen Drohnen stellen für die gesamte Bevölkerung Nord- und Ostsyriens eine dauerhafte Bedrohung dar. Ziel der Angriffe sind oft dicht besiedelte Gebiete in Städten. Ebenso wird immer wieder wichtige Infrastruktur attackiert, etwa Öl- und Gasanlagen, was den Alltag der Zivilbevölkerung massiv erschwert.
Drohnenangriffe erfolgen unangekündigt und willkürlich. Sie stellen eine enorme psychische Belastung dar. Der Tod lauert auf offener Straße und ohne direkten Täter. Es gibt kaum Möglichkeiten, sich zu schützen oder in Sicherheit zu bringen. Während Militärs oder Politiker*innen der Selbstverwaltung gezielt exekutiert werden, sterben am Rande der Exekutionen auch immer wieder Zivilist*innen.
Das RIC hat recherchiert, dass 33 der insgesamt 130 Drohnenangriffe im Jahr 2022 zivile Opfer zur Folge hatten. Dabei starben auch neun Kinder, 19 weitere wurden verletzt. Das sind keinesfalls Kollateralschäden, sondern ist Teil der türkischen Strategie: je größer die Unsicherheit, desto größer der Keil zwischen Bevölkerung und der Selbstverwaltung in Rojava. Dies schwächt zum einen die kurdische Bewegung in der Türkei und würde Ankara zum anderen auch eine Invasion in Nord- und Ostsyrien erleichtern.
Der türkische Drohnenkrieg in Syrien hat jedoch auch geopolitische Folgen. Die Streitkräfte Rojavas, unter ihnen die kurdisch dominierten Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ, waren und sind die entscheidende militärische Macht beim Kampf gegen den »Islamischen Staat« (IS) in Syrien. Soldat*innen und Generäle, die jahrelang gegen die »Gotteskrieger« des IS gekämpft haben, werden nun von der Türkei durch Drohnen getötet. Dies schwächt die Truppe.
»Die Drohnenangriffe und die türkischen Kriegsdrohungen haben dazu geführt, dass unsere Streitkräfte den Kampf gegen den IS einstellen mussten. Daher wird er seine Aktivitäten wieder aufnehmen«, sagt Dr. Abdulkarim Omar dem »nd«. »Dies ist nicht nur eine Gefahr für Syrien, sondern für die ganze Welt.« Omar ist Europa-Repräsentant der Autonomen Verwaltung. Ihm stimmt auch US-Oberst Myles Caggins zu, der bis 2020 Sprecher der Internationalen Allianz gegen den Islamischen Staat war: »Die türkischen Angriffe gefährden die Mission, den IS endgültig zu besiegen, insbesondere wenn die Angriffe der YPG/YPJ gelten, die für den Kampf gegen die Terroristen verantwortlich waren.«
Im Kampf gegen den IS sind die kurdischen Milizen und die USA Verbündete. Gleichzeitig schweigen sowohl die USA als auch die Internationale Allianz zu den Drohnenangriffen des Nato-Partners Türkei auf Rojava. Erdoğan kann somit Syrien weiter bombardieren: Zuletzt starb am 25. April 2023 in der Nähe der Stadt Kobanê das YPG-Mitglied Mazloum Dogan durch eine Drohne. Dies war bereits der zwölfte Drohnenangriff in diesem Jahr.
Christopher Wimmer berichtete 2022 für mehrere Monate aus Nord- und Ostsyrien. Der Bericht »Incessant War: Turkey’s Drone Campaign in NES, 2022« ist auf der Seite des RIC einsehbar: https://rojavainformationcenter.com.
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